Mannheim Aufgeblättert: Das Lieblingsbuch von Anne-Marie Geisthardt

„Man wird in eine andere Welt hineingezogen“: Anne-Marie Geisthardt über ihr Lieblingsbuch.
»Man wird in eine andere Welt hineingezogen«: Anne-Marie Geisthardt über ihr Lieblingsbuch.

Ihr Lieblingsbuch besitzt Anne-Marie Geisthardt sogar gleich doppelt. Dass sie gerade nicht mehr weiß, an wen sie das zweite Exemplar verliehen hat, ist kein Problem für die 36-Jährige. Kultur möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen – das ist sogar ihr Job: Sie ist die Geschäftsführerin des Vereins Kulturparkett Rhein-Neckar.

Auf die Frage nach einem ihr besonders lieben Buch muss Anne-Marie Geisthardt ein paar Tage überlegen. Und dann sprudelt es aus ihr raus, dann nennt sie gleich eine ganze Menge Romane, Sachbücher und Lyrikbände. Angefangen bei „Tim und Struppi“ und den Geschichten von Astrid Lindgren und Enid Blyton bis zu „Harry Potter“ als Kind und Jugendliche. Während ihres Studiums der Politik- und Verwaltungswissenschaften, Kultur- und Europawissenschaften in Konstanz hat sie vor allem Fachliteratur gelesen, aber auch gerne „Die Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch und Gedichte von Ingeborg Bachmann, Erich Fried oder Hilde Domin.

Auch durch Kunstkataloge stöberte sie begeistert. Und zwischen 20 und 30 habe sie sehr gerne Verfilmungen von Literaturklassikern wie Volker Schlöndorffs „Homo Faber“ oder Werner Herzogs „Woyzeck“ geschaut – in der Konstanzer Universitätsbibliothek mit großen Kopfhörern auf einem alten Sessel lümmelnd. „Last but not least wäre noch die Bibel zu erwähnen“, sagt sie. Das sei „am Ende des Tages sicher das Buch, das mich in meinem Denken, Handeln und Fühlen am meisten prägt – als Tochter eines Theologen, in einem ökumenischen Gemeindezentrum aufgewachsen, nicht ganz überraschend“.

In Frankenthal und Landau aufgewachsen

Da sie seit ihrer frühen Kindheit zuerst in Frankenthal und dann in Landau begeisterte Leserin und Nutzerin der jeweiligen Stadtbibliothek war und Literatur seitdem immer eine Rolle in ihrem Leben gespielt hat, ist die Auswahl eines einzigen Buches für unsere Serie eine besondere Herausforderung gewesen. Anne-Marie Geisthardt hat sie angenommen: Sie ist für die RHEINPFALZ am Bücherregal in ihrer Mannheimer Wohnung entlanggegangen und hat ihre eigene Reaktion auf die Buchtitel erspürt, die ihr dabei ins Auge fielen. Bei einem Roman kribbelte es besonders. Es ist „Butcher’s Crossing“ von John Williams.

Der amerikanische Schriftsteller, Journalist und langjährige Literaturwissenschaftler an der University of Denver, John Edward Williams, wurde 1922 in Clarksville, Texas, geboren und starb 1994 in Fayetteville, Arkansas. Er hat nur vier Romane vollendet, die zu seinen Lebzeiten keine großen Erfolge waren. Von seinem dritten, stark autobiografisch angelegten Roman „Stoner“, erschienen 1965, wurde erst 2009 eine spanische Übersetzung veröffentlicht und 2013 eine deutsche – lange nach seinem Tod. Es dürfte Williams’ bekanntester Roman sein. „Butcher’s Crossing“ ist im Original fünf Jahre zuvor erschienen, 1960, und in einer deutschen Übersetzung von Bernhard Robben 2015. Im Jahr 2022 kam eine Verfilmung mit Nicolas Cage und Fred Herchinger in den Hauptrollen ins Kino.

Eine Reise in den Westen

„Butcher’s Crossing“, benannt nach einem Schauplatz in Kansas, erzählt von dem Harvard-Studenten William, der sich um das Jahr 1870 auf der Suche nach einer Naturerfahrung auf eine Reise in den Westen begibt. Zusammen mit drei anderen Männermacht er sich auf zu einer Büffeljagd – wo er, um nicht zu viel zu verraten, Erfahrungen macht, die man als existenziell bezeichnen kann. „Es ist richtig schöne Prosa“, sagt Anne-Marie Geisthardt. „Man wird in eine andere Welt hineingezogen und schaut in menschliche Abgründe. Das sagt auch etwas über uns aus.“

Die 36-Jährige erinnert sich noch genau daran, wie das Buch zu ihr gekommen ist: Ihr damaliger Mitbewohner hat es ihr empfohlen. Und auch sie hat es schon weiterempfohlen, verschenkt – und eben eins von zwei Exemplaren verliehen. Generell findet sie es nicht erstrebenswert, in einer Wohnung mit vollen Bücherregalen zu lesen. „Ich habe sehr viele Bücher verschenkt oder vor die WG gestellt“, sagt sie. „Mir gefällt das Prinzip des Teilens und die Idee, dass sie zirkulieren.“ Dass kulturelle Angebote allen gesellschaftlichen Gruppen zugänglich gemacht werden sollten: Das ist auch die Idee des 2013 gegründeten Vereins Kulturparkett Rhein-Neckar, dessen Geschäftsführerin Anne-Marie Geisthardt ist. Zusammen mit vielen ehrenamtlichen Aktiven sammelt sie bei Kulturinstitutionen und Veranstaltern kostenlose Eintrittskarten ein und vergibt sie an Inhaber und Inhaberinnen eines Kulturpasses. Den bekommen Menschen, die zum Beispiel Bürgergeld oder Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, auf Antrag. Außer der Stadt Mannheim, wo die Geschäftsstelle ihren Sitz hat, beteiligen sich auch Ludwigshafen, Heidelberg, Speyer, Bad Dürkheim, Schwetzingen/Oftersheim und Hirschberg an dem Projekt.

Gerne bei Lesungen

Mit dem Kulturpass kann man – je nach Angebot – kostenlos ins Theater und Museum, zum Konzert und in die Oper, zum Vortrag oder zur Sportveranstaltung. Auch Tickets für Lesungen bieten die Partner immer wieder an. Anne-Marie Geisthardt selbst kann man bei Lesungen in der Region oft antreffen. Die Lesereihe „Europa Morgen Land“ habe sie schon oft inspiriert. So freute sie sich über persönliche Begegnungen mit Ijoma Mangold oder Katja Petrowskaja. Dem Kulturparkett ist es ein Anliegen, seinen Gästen solche Erfahrungen auch zu ermöglichen und sie teilhaben zu lassen am kulturellen Leben.

Daneben organisiert das Kulturparkett auch eigene Projekte – wie ein regelmäßiges „Shared Reading“ sowohl online als auch vor Ort in den S-Quadraten. Das gemeinsame Lesen und Sprechen über Geschichten in einem geschützten Raum sei sehr schön, sagt Geisthardt. „Man muss Literatur nicht nur im stillen Kämmerlein lesen. Sie kann Begegnungen fördern und Gemeinschaft stiften.“

 

Die Serie

Literatur eröffnet Welten, prägt unsere Wertvorstellungen und kann wichtige Weichen auf unserem Lebensweg stellen. In unserer Serie „Aufgeblättert“ fragen wir Persönlichkeiten aus der Rhein-Neckar-Region nach einem Lieblingsbuch, das sie besonders berührt hat.

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