Kaiserslautern Kirchenpoet mit Schamanenhut

„Das Paradies war für uns“ nennt die Schriftstellerin Bärbel Reetz ihre Doppelbiografie des Pirmasenser Dada-Begründers Hugo Ball und seiner Ehefrau Emmy Hennings. Sie hat einige aufregende Entdeckungen gemacht, die in den bisherigen Lebensdarstellungen des „wunderlichen Paars“ fehlten.

Die Entscheidung, Ball/Hennings eine Doppelbiografie zu widmen, in dem kapitelweise jeweils chronologisch die Lebenslinien der Protagonisten nachgezeichnet werden, erscheint zwingend. Denn die Suchbewegungen, die das Leben des seit Mai 1915 verbundenen Paars bestimmten, sind trotz aller Fliehkräfte, die diese Künstlerehe immer wieder gefährdet hat, bis zum Tod Hugo Balls im Jahr 1927 ein gemeinsames Projekt geblieben. Hugo Ball agiert dabei in der Rolle des väterlichen Beschützers, der gleichwohl zu gewaltigen Eifersuchtsszenen fähig ist. Emmy bleibt zeitlebens sein „tiefe Schuld sühnendes Kind“ (Reetz) und trotz aller guten Vorsätze unfähig zur Monogamie. Das kürzeste und raffinierteste Selbstporträt, das Hugo Ball je geschrieben hat, finden wir an versteckter Stelle in seinem Roman „Tenderenda der Phantast“. Dem quecksilbrigen Helden des kleinen Romans, der zwischen 1914 und 1920 entstanden ist, werden dort völlig gegensätzliche Eigenschaften zugeschrieben: „Der Autor nennt ihn einen Phantasten, er selbst nennt sich in seiner verstiegenen Weise ’Kirchenpoet’. Auch als ’Ritter aus Glanzpapier’ bezeichnet er sich, was auf den donquichotischen Aufzug hinweist, in dem Tenderenda bei Lebzeiten sich zu bewegen liebte. Er gesteht, seiner Fröhlichkeit müde zu sein und erfleht sich den Segen des Himmels.“ Der „Laurentius Tenderenda“, den Hugo Ball hier in ironisch funkelnden Sätzen vorstellt, ist sein kaum camoufliertes Alter Ego. Als „Ritter aus Glanzpapier“ hatte der Pirmasenser, bizarr kostümiert mit einem „Schamanenhut“, ab Februar 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich den Dadaismus zelebriert. Wenige Monate später war er, erschöpft von den dadaistischen Spektakeln, ins Tessin geflohen, um dort als asketischer „Kirchenpoet“ an Heiligengeschichten zu arbeiten. Das chamäleonartige Schillern des Helden „Tenderenda“: Es spiegelt das zwischen christlichen, dadaistischen und anarchistischen Energien oszillierende Leben, das Hugo Ball geführt hat. Ausgerechnet diesen eminent wichtigen „Tenderenda“-Roman hat Balls Lebensgefährtin, die exzentrische Dichterin und Diseuse Emmy Hennings, in ihren Briefen jedoch als Dokumente des „Übergangs“ abqualifiziert. So hat es sehr lange gedauert, bis eine substanzielle Biografie dieses so überaus wandlungsfähigen Dichters und Mystikers geschrieben werden konnte. Zu sehr war Hugo Balls Leben durch Emmy Hennings Erinnerungsbücher eingesponnen in ein Gespinst von Legenden. All die Sprunghaftigkeiten, die nicht nur Hugo Ball, sondern auch der ewig von ihrer „Weglaufsucht“ getriebenen, von ihrer Morphiumabhängigkeit zermürbten Emmy Hennings zu eigen sind, hat nun Bärbel Reetz geduldig entschlüsselt. Bereits 2001 hatte Reetz die „Vielfachheiten“ der innerlich zerrissenen Emmy Hennings in einer fesselnden Biografie aufgezeichnet. Für das neue Buch hat Reetz nun einige aufschlussreiche neue Aspekte eingearbeitet. Da ist zum Beispiel die Begegnung Balls mit der ungarisch-jüdischen Schauspielerin Leontine Sagan, die Ball in den Jahren 1913/14 so umtrieb, dass er sogar zu einer Heirat mit Sagan entschlossen war, um ihr ein Engagement an einem Theater in Wien zu ermöglichen. Es fehlt auch nicht an Hinweisen auf die dunklen Seiten von Emmys Vagabundentum. Die Entscheidung, für ihre Tochter Annemarie nur selten Verantwortung zu übernehmen und sie zu diversen Betreuern abzuschieben, wird von Reetz sehr kühl kommentiert. Auch Hugo Balls Fähigkeit, sich mit Freunden „alsbald zu verkrachen“, rückt in ein neues Licht. Ob nun Willy Deutschmann, der Wasgau-Maler, mit dem Hugo Ball in jungen Jahren befreundet war, ob Leontine Sagan oder auch Carl Schmitt, der umstrittene Rechtsphilosoph: Sie alle lernten einen Hugo Ball kennen, der nicht zögert, den Kontakt umgehend abzubrechen, wenn sich seine Lebenspläne ändern oder er sich Kritik ausgesetzt sieht. Reetz ernüchtert auch die schöne Fantasie vom Produktionspaar Ball/Hennings: „Wie so häufig in dieser Beziehung ist das Getrenntsein für das Paar ein besseres Bindemittel als das Zusammenleben, erlaubt die gegenseitigen Projektionen, aus denen ihre Beziehung lebt.“ Auch dokumentiert Reetz die faszinierende Koexistenz geistiger Widersprüche, die Hugo Balls Leben prägten, in bislang nicht erreichter Genauigkeit. Lesezeichen Bärbel Reetz: „Das Paradies war für uns. Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings“; Insel, Berlin; 484 Seiten; 29,90 Euro.

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