Kaiserslautern Hormone auf Achterbahnfahrt

Arno Geiger, der 2005 für „Es geht uns gut“ den ersten Deutschen Buchpreis gewonnen hat, ist ohne Scheu, wenn es darum geht, die eigene Biographie als literarischen Selbstbedienungsladen zu nutzen. So hat er in einem wunderbar einfühlsamen Buch die Demenzerkrankung seines Vaters verarbeitet („Der alte König in seinem Exil“), und so berichtet er ohne Hemmungen auch vom eigenen Erwachsenwerden – auch wenn der Held in seinem jüngsten Buch mit dem Titel „Selbstporträt mit Flusspferd“ eigentlich Julian heißt.

In Hermann Hesse hat die deutschsprachige Literatur den Dichter der männlichen Pubertät schlechthin, den Sänger des Erwachsenwerdens, den Beobachter jenes Zwischenreiches zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht. „Demian“, „Unterm Rad“, „Peter Camenzind“ könnte man hier aufzählen, und hätte längst noch nicht alle Erzählungen und Romane Hesses aufgelistet, die sich an dieser Thematik abarbeiten. Heutzutage ist das Thema der Pubertät ja vor allem eines der Jugendliteratur geworden, die sich als eigene Gattung etabliert hat. Arno Geiger, unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis dekorierter österreichischer Schriftsteller, kümmert sich um diese vermeintliche Grenze zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur offensichtlich genauso wenig wie einst Hermann Hesse. Denn auch wenn man sein „Selbstporträt mit Flusspferd“ in die Traditionslinie großer Bildungs- beziehungsweise Entwicklungsromane stellen könnte, von Goethes „Wilhelm Meister“ über „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis bis zu Kellers „Der grüne Heinrich“, die Pubertätsproblematik, der mühselige Kampf ums Erwachsenwerden steht eindeutig im Vordergrund. Mühselig, langsam, gemächlich ist so vieles in diesem Buch. Es ist ein träges Buch, so träge wie das Flusspferd, mit dem sich Julian anfreundet, weil er, der Student der Veterinärmedizin in Wien, die Pflege des Tieres im Garten des emeritierten Leiters seiner Fakultät, Professor Beham, übernommen hat. Auch in dessen Leben geht es nurmehr noch langsam zu. Ungewollt. An Krebs erkrankt, ist er an den Rollstuhl gefesselt. Er wartet auf den Tod, rauchend, trinkend, vor sich hingrantelnd wie ein echter Wiener. Und worauf wartet Julian? Auf das eine große Ding in seinem Leben. Auf die Frau seines Lebens. Darauf, dass er vom Suchenden zum Findenden wird. Zu Beginn der Semesterferien im Sommer 2004 hat er sich von seiner Freundin Judith getrennt. Nun packt ihn die Urangst, keine mehr abzubekommen, eine riesige Eselei begangen zu haben. Die wilde, aber eben auch sehr kindische und leidenschaftliche Verliebtheit , die er mit Aiko, der Tochter des Professors, erlebt, hilft da auch nicht wirklich weiter. Sie wird schwanger von ihm, reist ab nach Paris, er sieht in Wiener Gassen seinen Freund, das Flusspferd, und hört eine Stimme rufen. „Geh weiter! Sie wartet auf Dich!“ Das war’s . Weiter passiert nichts. Zumindest nichts, was Julians Leben unmittelbar betreffen würde, was er in einen Zusammenhang mit sich, mit seinen kleinlichen, peinlichen, eben pubertären Problemen bringen könnte. Ständig ist er am Greinen und Jammern, ständig bedauert er sich, fühlt sich verlassen, hintergangen, betrogen; ständig bettelt er um Liebe, um Zuneigung, tut das Schlimmste, was Männer tun können: er klammert. Ein rechter Wachlappen, ein banaler Durchschnittsmensch, der jeden Augenblick Gefahr läuft, seine Würde zu verlieren – was ihn so radikal von den vielleicht ebenso unspektakulären Alltagshelden eines Wilhelm Genazino unterscheidet. Arno Geiger schont da weder sich, den wir uns ja doch immer wieder als Teilvorbild für Julian denken, noch seinen Helden. Noch uns. Er schildert diesen so unreifen Reifeprozess in eben seiner ganzen Peinlichkeit. Wo Hesse noch schamvoll den literarischen Anspruch als Deckmantel benutzte, erzählt Geiger aus der Innenperspektiven eines 22-Jährigen, in dem die Hormone Achterbahn fahren. Und das, so ist das nun mal, ist halt meistens ziemlich peinlich. Oder glaubt irgendjemand, Goethes biographisches Lotte-Erlebnis hätte etwas mit der literarischen Qualität der „Werther“-Fiktion zu tun gehabt? Julian, unser Anti-Held, der selbst im Bett mit Aiko die Selbstbefragung nicht auslässt, „War ich wohl gut?“, hat immerhin jedoch ein Gespür für seine eigene Unzulänglichkeit, Unvollständigkeit. Da fehlt noch sehr viel Welterfahrung in seinem Leben. Noch ist er nicht in der Lage, dies zu ändern, das Draußen in sein verabsolutiertes Innen einzulassen. Aber er sitzt erschüttert vor dem Fernsehen, als er die Bilder der Geiselnahme in der nordossetischen Stadt Beslan sieht, der 2004 über 300 Menschen, die meisten davon Kinder, zum Opfer fielen. Er spürt: Das ist das Leben in seiner ganzen grauenvollen Wirklichkeit. Sein Kummer dagegen, so weit hat ihn dieser Sommer mit dem Flusspferd dann doch gebracht, schrumpft zusammen zur völligen Bedeutungslosigkeit. Das ist doch wenigstens ein Anfang

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