Kaiserslautern Glück in Germersheim

Der Star war 76 Jahre alt, ein Youngster gab den Paganini, zwei Fusion-Legenden besuchten die Sommerresidenz des Bayernkönigs, auf der Hauptstraße wurde es elektronisch: Palatia Jazz ging zum 18. Mal auf Festivaltour durch die Pfalz, kompakter diesmal mit elf Konzerten in sieben Wochen. 7000 Besucher waren es am Ende. Festivalleiterin Yvonne Moissl ist hochzufrieden, blickt aber dennoch leicht sorgenvoll in die Zukunft.

Charles Lloyd kann ein schillerndes Leben vorweisen: Mit B. B. King hat er in den Fünfzigern Blues gespielt, in den Sechzigern mit Jazzrock die Massen begeistert, ist als Junkie abgestürzt, hat sein spirituelles Ich gesucht und ist in den Achtzigern glorreich zurückgekommen. Jetzt steht er etwas schüchtern auf der Palatia-Jazz-Bühne in der Festungsanlage in Germersheim, einem intimen Innenhof inmitten eines weitläufigen Kasematten-Labyrinths. Er trägt ein schrulliges Hütchen auf dem Kopf, hat sein zerknittertes Leinenjackett bis auf den letzten Knopf geschlossen und sich ein Schälchen ängstlich um den Hals gewickelt, als stünde ein Herbstspaziergang am East River an. Der Mann ist 76 und tiefenentspannt. Wie beiläufig breitet er seine Melodien, Rhythmen und Klangfarben aus. Seine Kompositionen sind zeitlose Jazzpreziosen, die sich wie alte Standards anfühlen und dabei frisch klingen, wie gerade erfunden. Mit Klarinette, Querflöte oder Tenorsaxofon gibt er jedem Stück seine besondere Atmosphäre, entwickelt die Balladenerkundungen oder Hardbop-Hitzigkeiten behutsam und geduldig, um irgendwann ein Feuer zu entfachen, das die ganze Welt zum Glühen bringt. Sein Spiel ist eine einzige lebensvolle Erzählung. Die Band assistiert ihm ebenso virtuos wie respektvoll. Es ist das Trio des jungen Amerikaners Gerald Clayton, Nachfolger von vielen großartigen Pianisten, mit denen Lloyd gespielt hat: Keith Jarrett im Jazzrock-Quartett von 1966, Michel Petrucciani beim Comeback in den Achtzigern, später Geri Allen, Brad Mehldau, Jason Moran. Clayton fügt seine eigene Klangfarbe hinzu, gibt dem Auftritt Spannungsmomente und Beschleunigungsphasen. Kontrabassist Joe Sanders ist eher für Entschleunigung zuständig, für fein ausformulierte Statements. Und Schlagzeuger Justin Brown ist der dezenteste Antreiber, den man sich wünschen kann. Zusammen spielen sie einen Jazz, bei dem das Vergangene jederzeit die Tür zur Zukunft öffnet. Als der letzte Zugabenton verklungen ist, fallen die ersten Tropfen. Mehr Glück in Germersheim geht nicht. Der schönste Standort der pfälzischen Jazz-Festspiele ist vielleicht die Villa Ludwigshöhe. Die Sommerresidenz des Bayernkönigs mit ihrem großartigen Blick über die Rheinebene ist hier Kulisse für den Jazz. Der gibt sich diesmal nostalgisch, führt zurück in die Achtziger, als die Haare lang und der Jazz elektrisch waren. Saxofonist Bill Evans (56) und Gitarrist Mike Stern (61), beide Protagonisten in den Fusion-Bands von Miles Davis, zelebrieren noch einmal den Jazzrock aus der Gute-Laune-Abteilung. Der immer etwas hyperaktive Stern macht mit knackigen Akkordserien und flirrenden Soli viel Dampf, Evans füllt mit vollem Tenorton groovige Klangräume. Das ist so herrlich retro wie die Haarmähne von Stern und das Stirntuch von Evans. Jüngere sind natürlich auch dabei, Saxofonist Marius Neset und Pianist Leszek Mozdzer etwa und vor allem Adam Baldych, das neue Geigenwunderkind aus Polen. Der verfügt über technische Raffinesse und melodische Geschmeidigkeit, steht hörbar in der Tradition polnischer Jazzgeiger wie Zbigniew Seifert, bedient sich aber auch großzügig bei der europäischen Folkmusic, besonders der irischen. Er lässt bei seinen Soli Bogen und Haare fliegen, gibt den Paganini als lässigen Fiddler, zelebriert eine leutselige Virtuosität, die nie das Effektvolle aus dem Blick verliert. Sein polnisches Quartett beschränkt sich auf die Rolle schmiegsamer Begleiter. Dass der Pianist Pavel Tomaszewski deutlich mehr drauf hat, darf er in Deidesheim immerhin in ein paar Soli andeuten. Ein gleichberechtigtes Trio hat der finnische Pianist Iiro Rantala nach Schifferstadt mitgebracht. An Stücken von Jarrett, Gershwin und Hendrix interessiert ihn vor allem die harmonische Substanz. Für eigene Kompositionen müssen schon mal musikalische Porträts der Söhne herhalten. Rantala bleibt dabei ein melodienfressender Tastentiger, was in anderen Konstellationen schon mal ins Claydermaneske abrutschen kann, hier aber von den Kollegen kühl abgefangen wird. Schlagzeuger Wolfgang Haffner, langjähriger Partner von Albert Mangelsdorff, zerfasert kunstvoll die Rhythmen, ohne die Richtung zu verlieren. Kontrabassist Miroslav Vitous, Mitgründer der Fusion-Legende Weather Report, umschmeichelt die Melodien, um im rechten Augenblick mit Verzerrer und Wah-Wah-Pedal dazwischenzufahren. Der Abschluss dann wie gewohnt in Herxheim auf der Hauptstraße, zwischen historischer Villa, Sparkasse und Eisdiele. Unter dramatischem, aber regenfreiem Himmel ist dort der Norweger Nils Petter Molvær zu Gast. Sein neues Projekt Switch knüpft an seine Band Khmer aus den Neunzigern an. Es gibt hypnotischen Schlagzeugdonner, wuchtige Basslinien, folkloristische Soundschlieren und Melodiefetzen. Für Letztere ist neben Molvær mit seiner elektronisch verfremdeten Trompete der Pedal-Steel-Gitarrist Geir Sundstol zuständig. Der bringt mit seinen zerdehnten Klagelauten eine amerikanische Note ins norwegische Klanggewitter. Auch das gelegentlich eingesetzte Banjo sorgt für Mississippi-Feeling am Fjordufer. Das Quartett spielt wie aus einem Guss, alles sehr intensiv, laut und wunderbar melancholisch. Molværs großartiges Konzert ist der perfekte Abschluss für ein rundum gelungenes Festival. Ob es auf diesem künstlerischen Niveau weitergehen kann, ist dennoch offen. Wie Yvonne Moissl mitteilt, laufen fast alle Sponsorenverträge aus. Damit ist fast die Hälfte des eine halbe Million Euro umfassenden Palatia-Jazz-Etats ungewiss. Wir drücken die Daumen, dass das Finanzierungskunststück wieder gelingt. Was wäre die Pfalz ohne den Jazz!

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