Kaiserslautern Die Weisheit der Weißheit

Wer kurz mal rausschauen möchte, bitte, der weiß was vermisst wird, heute, zwei Tage nach dem 21. Dezember, Weihnachten vor der Tür. Weiß. Das Unbunte. Die Nichtfarbe der Stunde, die den Winter ausmacht. Schnee. Wer weiß, warum das so ist, dass wir uns weiße Weihnachten wünschen? Jetzt einmal abgesehen davon, was wir meteorologisch erwarten. Eine Spurensuche.

Vielleicht eine Erklärung: Weil Weiß nicht nur die drei Zapfentypen im Auge mit gleich hoher Intensität reizt, sondern passend zum Fest etwas Existenzielles in uns mit dazu. Weil Weiß nicht nur dem Licht zur größtmöglichen Reflexion verhilft, sondern auch uns. Ist so. Weiß – wegen der idealtypischen Weißheit und Weisheit? – und also weiße Weihnachten scheinen tiefere Schichten in uns anzusprechen. Wer braucht dazu schon Krokusse? Doch von vorne. Wie gut vorstellbar das ist, dass, wenn nicht absolute Beginnlosigkeit herrschte, schon einmal, am Anfang von allem, auch alles weiß war. Ein Weißraum war, sonst nichts. Jemand hatte die Carte blanche. Gott? Das, unser Licht. Licht, das ja weiß strahlt. Dann fiel der erste Schnee. Oder so. Weiß, im Englischen white, vit schwedisch, italienisch bianco, blanc französisch. Für den Weltraumfan und Bildererfinder Kasimir Malewitsch symbolisiert es die reine Wirkung, die wahre, wirkliche Idee der Unendlichkeit. Weiß steht für das Beginnen, das Gute und Neue, die Wissenschaft, das Genaue, das Wesentliche und Wesenhafte, den Winter, in dem kaltweiße Distanz unseren Blick schärft und selbst eine Stadt wie Venedig noch schöner ist, wie der Literaturpreisträger Joseph Brodsky das in seinem Essaybuch „Ufer der Verlorenen“ beschreibt. Auf mittelalterlichen Kunstwerken sprießt die weiße Madonnenlilie als Sinnbild der Rein- und Schönheit. Weiß symbolisiert für Leute, die Farben hören können, Ruhe. So etwas wie die starrende Stille, die beim Fahren im Tiefschnee tönt. Das Gegenteil zu der Geräuschkulisse, die einen bei einem grellbunten Weihnachtsmarkt umfängt, der in seinen Auswüchsen ja für die Pervertierung des Anlasses steht. Weiß definierte der Künstler Wassily Kandinsky als das „große Schweigen“. Es herrscht bei jedem Bild, das mit einer weiß grundierten Leinwand anfängt. Weiß ist was für Ärzte und andere Götter, den Papst, Priester an den höchsten Feiertagen, Toni Kroos, der im weißen Trikot der Intergalaktischen von Real Madrid transzendentale Steilpässe spielt. Bräute tragen es, wenngleich meist zu Unrecht. Und auch wenn Angela Merkel mit Vorliebe andersfarbige Hosenanzüge anzieht, ihr fast so mächtiger Kollege Zeus erschien Europa als weißer Stier. Es ist so, wenn die Landschaft draußen vor der Tür weiß gepudert ist, dann ist das im Winter, an Weihnachten zumal, für fast uns alle ein Idealbild. Eingeschneit in unser kulturelles Gedächtnis, auch wenn wir – allzeit beheizt von der Wärmeabstrahlung der Laptops und PCs – das Frieren verlernt haben. Deutschland an Weihnachten ist in unseren Gedanken ein Wintermärchen, immer gewesen. Dabei liegt eine strengere Ausgabe 30 Jahre zurück. Schon klar, immer mal wieder winters fällt Schnee, die Pfützen frieren. Die Bahn spricht vom Wetter. 1984/85 allerdings waren die Durchschnitts-Temperaturen tatsächlich einmal langfristig – und spürbar – um minus 2,5 Grad gegenüber dem Normalmaß herabgedimmt. Noch drei Grad kälter war es im Winter 1962/63. So kalt wie nie sonst im 20. Jahrhundert. Der Bodensee eiste vollständig zu, eine weiße Fläche, auf der man übers Wasser ging und poetische Spuren seiner Existenz hinterließ. Weiße Weihnachten war garantiert. Vielleicht liegt es an den Winterbildern, der Winterliteratur, den Winterliedern, die unser Bewusstsein zwischen dem 21. Dezember und dem 21. März instinktiv auf Schnee eingestellt haben. Eine Sehnsucht, weiß grundiert. Weiß soll sich einmal im Jahr wenigstens über alles legen, die Landschaft weiße Handschuhe tragen, damit die Welt erscheint wie auf Kasimir Malewitschs Gemälde „Weißes Quadrat auf weißem Grund“. Alles soll mit Unschuld zudeckt sein, dann ist alles heil und gut. Mentalitätsgeschichtlich sind wir wie John Le Carrés Spion aus der Kälte geboren, aus dem Weiß. Mit jedem Schneetreiben weht uns ein scheinbar schon sehr lange vertrautes Gefühl weiß an. Eine ferne Erinnerung, im Packeis unsere Gene konserviert, an das große Bibbern zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Die Klimahistoriker sprechen von der Periode als „kleiner Eiszeit“. Im kältesten Winter des Jahrtausends 1739/40 fielen die Vögel erfroren vom Himmel. Kulturgeschichtlich aber war es nicht die schwärzeste Zeit. In der Literatur der Epoche: lauter Winterreisen. Auf den Gemälden: Rieseln. Und immer dieses himmelhochjauchzende Zutodebetrübtsein, die laute Ahnung davon, mitten im Leben bin ich vom Tod umfangen wie Tolstois Held Pierre, der sich (in „Krieg und Frieden“) nach seinem gewonnenen Duell im Schnee verliert. Im Weißraum. Weiß ist der wesentliche Teil dieser schwarz-weißen Ambivalenz, die einen spüren lässt, dass man da ist, lebt. Eine süße Melancholie, die in Hölderlins „Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen“ hell (weiß?) aufscheint. Goethe, den beim Eislaufen „eine selig bewegte Ruhe“ überkommt. Und dann wieder die Schneebilder von Caspar David Friedrich, die seelenvollen Totenlandschaften gleichen. Wenn es weiß wird draußen, rücken die Lebenden enger zusammen. Das Urbild der weißen Jahreszeit, Pieter Brueghels „Rückkehr der Jäger“ aus dem Jahr 1565, zeigt Heimkehrer, die kaum etwas von der Jagd mitbringen. Einer trägt einen Hasen geschultert. Es wird wohl Hunger herrschen. Trotzdem ist das Gemälde voller Harmonie. Die Jäger blicken vom Hügel herab auf eine fröhliche Gesellschaft beim Eisstockschießen. Schlittschuhläufer ziehen ihre Bahnen ins Weiß. Im Winter gab es für die Bauern eben nicht so viel zu tun. Fast 500 Jahre später steht uns das Schneeweiße auch wunderbar. Klinisch kalte Technik und Virtualität beherrschen uns, Finanzmärkte, deren Werte so real sind wie der Weihnachtsmann mit seinem weißen Bart. Statt auf die bäuerliche Freizeitgesellschaft, schaut man auf hyperventilierende Fernseh-Meteorologen. Zur Not sind sie lange unterwegs, um im weißen Eisregen zu stehen. Zusammen mit den anstehenden Tiefs verbreiten sie eine leise Ahnung von der Weisheit der Hundertjährigen. Sie bestimmt auch Brueghels Bild. Der weiße Winter ist nämlich nicht nur idyllisch schön. Kaum zu glauben bei Temperaturen über Null, aber er kann eine existenzielle Bedrohung sein. Eine große Gefahr bedeuten. Blitzeis, Tod und Teufel. Allerdings türmt sich auch, wie jeder weiß, in der Not, und je größer sie ist, desto mehr, lawinenartig eine neue, noch größere Sehnsucht auf. Aus dem Weiß, so bedrohlich es werden kann, wächst das Bunte umso schöner. Das Grün. Der Frühling. Das Wer-weiß-schon-was-Schönes-kommt?

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