Kaiserslautern Die schillernde Lola

Das Leben, wie die Kinks es mit einer Liebe zum Detail wiedergeben, die in der Pop-Musik selten ist, ist nicht so einfach. Es ist schon deshalb nicht so einfach, weil Ray Davies, der Leadsänger der englischen Band, ihr Komponist und tonangebender Mann, der heute 70 Jahre alt wird, nicht eben unkompliziert ist.

Auf der einen Seite ist Davies ein Realist, der in seinen Liedern eine Chronik der englischen Gesellschaft aus marxistischer Sicht schreibt – wohl niemand im Rock hat so stark wie er die grundlegende Bedeutung der Klassen und der Klassenzugehörigkeit hervorgehoben. Auf der anderen Seite ist er ein romantischer Individualist, der die graue Uniformität fürchtet, mit der eine marxistische Lösung die gesellschaftlichen Probleme verhängen würde. Und so flüchtet Davies in Nostalgie und Fantasie. Er ist, so satirisch wie sentimental veranlagt, sowohl politisch wie sexuell in sich gespalten. Vor allem die Kinks-Alben der 70er Jahre wie „Preservation Act 2“ oder „Soap Opera“ sind Jahrmarktszelte mit witzigen Zerrspiegeln, in denen Ray Davies gespalten und verdoppelt als Mann und Frau, als Kapitalist und Kommunist, als Pop-Star und Otto Normalbürger erscheint. Schon im ersten Song von Ray Davies, den die Kinks 1964 aufgenommen haben, wurden die herkömmlichen Geschlechterrollen vertauscht. „I Took My Baby Home“ handelt von einer Frau, die so unheimlich rangeht, dass ihr erschrockener Liebhaber von ihren „wilden Küssen“ buchstäblich umgehauen wird. 1965 übernahm Davies wiederum eine traditionellerweise weibliche Rolle, als er flehentlich bat: „Set me free, little girl“. Dieses sexuelle Versteckspiel fand 1970 in der alles krönenden Mehrdeutigkeit von „Lola“ seinen Höhepunkt. Es gibt zwei Geschichten über die Frau in dem größten Hit der Kinks, aber in keiner geht es tatsächlich um eine Frau. Wer also war Lola? Eine wenig glamouröse Antwort gibt Jon Savage in seiner Kinks-Biographie. Darin berichtet Davies von einer ausgelassenen Party, bei der sein Manager „an ’was Heißem dran“ war, dabei aber die Bartstoppeln im Gesicht der Dame nicht bemerkte. Die Frau war ein Mann und, so Davies, „der Manager war zu besoffen, als dass es ihm etwas ausgemacht hätte“. Eine andere Version der Geschichte, die von Heinz Rudolf Kunze auch in Deutsch zu einem Hit gemacht wurde, stammt von dem New Yorker Transvestiten Candy Darling, der in einem Interview behauptete, der Kinks-Sänger habe angeblich eine Affäre mit ihm gehabt als Inspiration für den Song. Ray Davies schweigt bis heute zu den Hintergründen. Candy Darling, die 1974 starb, ging jedenfalls in die Musikgeschichte ein. Neben den Kinks, Velvet Underground und Morrissey hat auch Lou Reed ihr ein Denkmal gesetzt in „Walk On the Wild Side“: „Candy came from out on the island, in the backroom she was everybody’s darling“. Seit dem Ende der Kinks 1996 ist Ray Davies als Solokünstler unterwegs. Seine letzte CD stammt aus dem Jahr 2010. Noch einmal im Rampenlicht stand er 2012 bei der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London mit dem Kinks-Song „Waterloo Sunset“.

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