Kaiserslautern Der Wikipedia-Kosmos

Seit 2001 steht sie für freies Wissen per Mausklick: die Wikipedia. Fast eine Milliarde Mal im Monat wird allein die deutsche Ausgabe der Online-Enzyklopädie aufgerufen, 1184 Bände mit je 200 Seiten würde ihr Inhalt derzeit füllen. Das Projekt, das mittlerweile so viel mehr weiß als der Brockhaus, nimmt jeder für selbstverständlich. An die 5200 ehrenamtlichen Autoren, die hinter der deutschen Wikipedia stehen, verschwendet der Nutzer kaum einen Gedanken. Ein Pfälzer „Wikipedianer“ gibt Einblicke.

Sie heißen „Peter200“, „Voyager“, „Atamari“ und „Graphikus“: Wer bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia mitmachen will, kann das völlig anonym tun. Mehr als ein Pseudonym und ein Passwort ist nicht nötig, um sich anzumelden. Für kleine Korrekturen braucht es noch nicht mal das. Wer gestaltet Wikipedia? – eine Frage, die bei so viel Anonymität also kaum zu beantworten ist. Der durchschnittliche Wikipedianer soll männlich, jung, ungebunden und hoch gebildet sein. Zu diesem Ergebnis kam zumindest eine Umfrage der Universität Würzburg. Einer dieser Autoren ist „1rhb“ alias Rudolf Böttcher aus Frankenthal. Er gehört zu den 512 „Benutzern“ - so heißen offiziell alle Mitwirkenden an dem Online-Lexikon –, die in ihrem Benutzerkonto Rheinland-Pfalz als Wohnort angegeben haben. Der freiberufliche Regionalhistoriker ist seit fünf Jahren dabei und hat in dieser Zeit nach eigenen Angaben rund 100 Artikel geschrieben. „Ich habe öfter in Wikipedia gelesen und gemerkt, dass Sachen darin gefehlt haben“, erinnert sich Böttcher, wie alles anfing. Seinen ersten Artikel verfasste er über die Speyerer Frauenrechtlerin Adelheid Steinmann, es folgten viele weitere zur Pfalz, später auch zu Polen. „Das war einfacher, denn die Pfalz ist mittlerweile ziemlich abgegrast“, findet der gebürtige Mannheimer mit polnischen Wurzeln. Einmal die Woche arbeite er an Wikipedia, nicht täglich, wie das durchaus bei manchen eingefleischten Wikipedianern üblich ist. Aktuell gibt es deutschlandweit rund 830 sehr aktive Autoren. Das sind nach Wikipedia-Definition Leute, die mehr als 100 Bearbeitungen im Monat vornehmen. Bearbeitungen, das heißt nicht nur neue Artikel schreiben. Das heißt mittlerweile vor allem: Bestehendes Korrektur lesen, verbessern, erweitern und fortlaufend aktualisieren. Wer keine Lust aufs Schreiben hat, kann Fotos machen oder Grafiken, Diagramme und Landkarten erstellen und diese dann bei Wikipedia hochladen. Und wer sich gerne in der „Community“ engagiert, kann Fragen im Support-Team beantworten, neue Autoren im Mentorenprogramm betreuen oder die zahlreichen Hilfe-Seiten auf dem neuesten Stand halten. Denn hinter den „offiziellen“ Artikeln der Enzyklopädie gibt es zahllose weitere, die jedes Detail der Wikipedia-Welt beleuchten, etwa zu „Löschregeln“, zur „Machtstruktur“ oder zu „Hauptautoren“. Eine Art Parallellexikon, das sich dem Nicht-Eingeweihten nur schwerlich erschließt. Weil bei Wikipedia jeder losschreiben darf und es gerade bei kontroversen Themen viele Meinungen gibt, schleichen sich unweigerlich Fehler ein oder es werden Themen nicht objektiv dargestellt. Das Wikipedia-Prinzip lautet hier: Benutzer kontrollieren und korrigieren sich gegenseitig, damit die drei wesentlichen Prinzipien des Mitmach-Lexikons (Belege, neutraler Standpunkt, Relevanz) eingehalten werden. Dazu gibt es zu jedem Artikel eine eigene Diskussionsseite, auf der jede Formulierung dem kritischen Urteil der Community ausgesetzt ist. Rudolf Böttcher hatte Glück: „Bei meinem ersten Artikel hatte keiner etwas auszusetzen“, erzählt er. Die Regel ist das freilich nicht, im Schnitt wird ein Artikel ganze 29 Mal verändert. Seit einigen Jahren müssen zudem Bearbeitungen neuer Autoren zuerst durch erfahrenere Autoren freigegeben werden, bevor sie für jeden sichtbar sind. Das soll Vandalismus vorbeugen. Dennoch treiben immer wieder „Vandalen“ im Lexikon der Anonymität ihr Unwesen. Dafür gibt es wiederum von durch die Gemeinschaft gewählte Administratoren, die für „Recht und Ordnung“ sorgen sollen. Sie können mutwillige Zerstörer sperren und falsche Artikel löschen. Denn auch das ist Wikipedia nach 16-jährigem Bestehen: ein völlig durchorganisiertes, hierarisch aufgebautes Gebilde mit eigenem „Rechtssystem“, an dessen Spitze ein Schiedsgericht sowie „Bürokraten“, „Checkuser“ und „Oversighter“ mit besonderen Befugnissen stehen. Böse formuliert könnte man auch sagen: Der Anfänger und Gelegenheits-Schreiber bei Wikipedia hat wenig zu melden, die alten Hasen und Platzhirsche umso mehr. „Es gibt Personen, die seit zehn Jahren dabei sind, und denken, ihnen gehöre die Wikipedia, die meinen sie hätten Hausherrenprivilegien“, kritisiert Böttcher. Damit Bearbeitungen überhaupt akzeptiert und nicht sofort wieder rückgängig gemacht werden, muss man sich einen gewissen sozialen Status in der Gemeinschaft erarbeitet haben. Und, so der Frankenthaler: „Auf den Diskussionsseiten wird oft ein rauer Umgangston gepflegt, da muss man an starkes Rückgrat haben.“ Ein hartes Brot also für ein zeitaufwendiges, ehrenamtliches Engagement. Letztlich sollen der zunehmende Bürokratismus, die Abschottung nach unten und die rüden Umgangsformen dann auch schuld sein an die beiden Hauptproblemen von Wikipedia: Dem seit Jahren anhaltenden Autorenschwund und dem äußerst geringen Anteil weiblicher Autoren, der wiederum für die mangelnde Beachtung von Frauenthemen in dem Online-Nachschlagewerk verantwortlich ist. Die Wikipedia kennt ihre Probleme und analysiert sie ausführlich. „Die Anonymität des Internets“ begünstige demnach „Beleidigungen, Herabwürdigungen, üble Nachreden und Verleumdungen“, während Frauen durch technische Hürden, mangelndes Selbstvertrauen, wenig Freizeit und dem Scheuen von Konflikten vom Mitmachen abgehalten würden. Sogenannte Bots, also Programme, die neuerdings selbstständig Wikipedia-Artikel nach Schreibfehlern durchsuchen, sollen außerdem Anfängern die typischen Einstiegsarbeiten wegnehmen. Der Förderverein der deutschen Wikipedia, die Wikimedia Deutschland, will die Probleme in den Griff bekommen. Um neue Leute zum Mitmachen zu animieren, habe man die Seite wikipedia.de/machmit eingerichtet, teilte der Verein auf Anfrage mit. Auf dieser werden in kurzen Videos die ersten Schritte bei Wikipedia einfach erklärt. Durch Projekte wie „WomenEdit“, bei denen sich Frauen monatlich zu Schreibveranstaltungen treffen, sollen explizit Frauen angesprochen werden. Und den Hass-Kommentaren will man durch Trainingsmodule in Form von Multiple-Choice-Tests Herr werden. Bisher gibt es die Etikette-Tests allerdings nur auf Englisch. Der Pfälzer Autor Rudolf Böttcher sieht dennoch gelassen in die Wikipedia-Zukunft. „Der Einstieg ist nicht schwer“, meint er. Und: Jeder könne die Wikipedia verbessern helfen. Am besten gleich vor Ort, in der Pfalz. Hier warten laut dem Historiker noch einige Biografien und ein Lexikon der Burgen und Klöster um Kaiserslautern darauf, geschrieben zu werden.

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