Frankenthal „Armutsprävention ist mir wichtig“

Gesundes Frühstück im Kindergarten: in zwei Wormser Kitas ist das dank Sponsoren möglich.
Gesundes Frühstück im Kindergarten: in zwei Wormser Kitas ist das dank Sponsoren möglich.

«Worms.»Das Areal entlang der Grünen Schiene, der Bahnlinie zwischen den Wormser Ortsteilen Neuhausen und Nordend, wurde vom Bund ausgewählt für das Projekt Soziale Stadt. In einem Gebiet mit 6500 Menschen und einem hohem Anteil an Sozialhilfeempfängern und Migranten soll eine Armutspräventions- und Bildungskette modellhaft entwickelt werden. Ein großes Thema ist die Kinderarmut. Ziel ist eine Unterstützung vom Säugling bis zum Berufsabschluss. Wir sprachen mit dem parteilosen Sozial- und Bildungsdezernenten Waldemar Herder über das Projekt.

Herr Herder, was heißt Kinderarmut?

Ein Kind gilt als arm, wenn die Eltern Sozialhilfe bekommen und damit das Kind auch. Rein rechnerisch waren das 2013 in Worms rund 207 Kinder und Jugendliche von 1000 Einwohnern unter 15 Jahren (in Frankenthal rund 186, Anmerkung der Redaktion). Hochgerechnet auf die Stadt heißt das, jedes fünfte Kind leidet unter materieller Armut. In dem von uns jetzt betrachteten Gebiet ist es sogar jedes dritte Kind. Darüber hinaus gibt es aber auch Kinder, die nicht arm, aber arm dran sind, also emotional wie auch in anderen Dingen vernachlässigt werden. Diesen Anteil schätzen wir auf rund 15 Prozent. Das heißt wir sprechen von rund einem Drittel armer Kinder. Das ist eine Größenordnung, da müsste uns als Gesellschaft angst und bange werden. Wie macht sich Kinderarmut bemerkbar? Armut heißt, es ist wenig Geld da für alles, für Kleidung, Wohnung, Lebensmittel, Gesundheit. Aber es gibt nicht nur monetäre Armut. Es mangelt an Bildung, an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Gerade im Bereich Soziale Stadt Grüne Schiene haben fast zwei Drittel der Kinder Sprachdefizite, über 40 Prozent gehen auf die Hauptschule. Von Kinderarmut wird immer nur geredet, aber es geschieht wenig. 1976 hat der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geißler (CDU) gesagt, wir sind arm an Wissen über Armut. Nachhaltig damit auseinandergesetzt haben wir uns als Gesellschaft bis heute noch nicht. Ein Stück weit wird Armut auch negiert, wir sind ein reiches Land, heißt es da, bei uns gibt es keine Armut. Mir ist es ein großes Anliegen, hier etwas zu ändern. Seit ich im November 2013 in Worms bin, beschäftige ich mich mit diesem Thema. 2013 bis heute ist eine lange Zeit. Nun, ich habe 2014 angefangen zu schauen, was kann ich mit meinem System vor Ort umsetzen. Wir sind auch im Moment erst in der Analyse, schauen, was es vor Ort an Angeboten gibt, wo Defizite sind. Das heißt, Sie machen jetzt erst die Bestandsaufnahme. Wir haben kein zehn Punkte-Programm, dann ist die Armut weg. Nein, wir entwickeln einen Prozess quasi bei laufendem Betrieb. Zunächst schaffen wir Strukturen und den Rahmen. Es wurde ein Quartiermanager, ein sogenannter Kümmerer, engagiert. Jetzt soll ein Quartierzentrum als Ort der Begegnung entstehen. Verschiedene Akteure im Gebiet, etwa die Angebote der Caritas mit Gesundheitsladen und Stadtteilbüro oder das Alisa-Zentrum, das benachteiligte Kinder fördert, müssen vernetzt, das Tun abgestimmt werden. Werden die Angebote angenommen? Wir wollen nachschauen, wer nutzt etwa Schwangerschaftsgymnastik, die Beratung der Hebamme, das Angebot an Krippen und Kitas. Und wir müssen uns fragen, warum schicken Menschen ihre Kinder nicht in die Kita. All diese weißen Flecken müssen sensibel erarbeitet und im zweiten Schritt muss geguckt werden, wo und wie setzen wir an. Gibt es zusätzliche Ideen? Es gibt schon sehr viele Ideen. Wir brauchen vor allem niederschwellige Angebote, mit denen wir möglichst viele erreichen. Derzeit gibt es schon in zwei Kitas ein gesundes Frühstück. Manche Kinder kennen ja gar keinen Apfel. Das Thema gesunde Ernährung wollen wir aber auch den Eltern näherbringen. Nicht über Volkshochschulkurse, das spricht vielleicht eher Bildungsbürger an, sondern etwa über Elterncafés und Elternnachmittage in den Kitas oder Grundschulen. Übrigens am stärksten von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. Da wäre mein großer Wunsch eine Kita für Alleinerziehende. Die Eltern müssen mitmachen? Unbedingt. Es ist wichtig, die Eltern zu bestärken, dass sie stolz sein können, wenn ihr Kind in der Schule gut ist, wenn es in die Stadtbibliothek geht, sich ein Buch ausleiht. Oft hören die Kinder ja eher ein „willst du was Besseres werden?“ Ich komme auch aus einfachen Verhältnissen, aber meine Eltern haben immer gesagt, „Junge, lern’ was, damit du nicht so schwer dein Geld verdienen musst“. Wie ist die Zeit- und Arbeitsschiene? Wichtig ist mir, die Betroffenen zu beteiligen, damit es ein nachhaltiger Prozess wird. Betroffene und Kinder können sehr wohl formulieren, was ihnen fehlt. Das hört lange nicht beim knurrenden Magen auf. Zeitlich bedeutet das, unser mit den Akteuren vor Ort erarbeitetes Gerüst wollen wir im Herbst vorstellen und danach in die vertiefende Bedarfsanalyse mit Einzelinterviews der Betroffenen gehen. Das endgültige Konzept soll im Frühjahr 2019 zur Diskussion stehen. Gibt es ähnliche Projekte, die bereits erfolgreich laufen? In Nordrhein-Westfalen gibt es ganz viele gute Projekte. Wir können also ein Stück weit schon von Best-Practice-Modellen lernen. Aber wir wollen weitergehen, wir wollen alle Altersgruppen integrieren. Für wen soll das Projekt Pate stehen? Ist es erfolgreich, werden wir es auf die ganze Stadt übertragen. Wie steht die Politik dazu? Das Projekt hat bei der Vorstellung alle beteiligten Ausschüsse überzeugt und im Stadtrat gibt es eine Grundsatzentscheidung zur sozialen Stadt. Natürlich sollen die Gremien das Projekt mittragen. Aber da bin ich ganz zuversichtlich. Ich habe noch nicht erlebt, dass der Stadtrat bei einem guten, nachhaltigen Konzept gesagt hat, nein, da gehen wir nicht mit. | Interview: Christina Eichhorn

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