Donnersbergkreis Quergeist unter Filzhut

War der Mann mit dem Filzhut ein Scharlatan, Spinner oder Visionär? Wohl keiner hat die Welt der Kunst so gespalten wie der Zeichner, Plastiker und Aktionskünstler Joseph Beuys. In einem üppig bebilderten Konzertvorlesungsmarathon, der über dreieinhalb Stunden bis zur letzten Minute fesselte und mit zwei Zugaben ausklang, leuchtete Norbert Willenbacher die Persönlichkeit Beuys aus. Mit dem facettenreichen Abend „Alles Filz und Fett – oder was?“ begannen am Sonntagabend die 40. Kirchheimbolander Friedenstage im proppenvollen „Blauen Haus“.

Erste Szene: Der junge Beuys, im Zweiten Weltkrieg hochdekorierter Sturzkampfflieger, von russischer Flak abgeschossen und jetzt in Filz gehüllt, wird von einer tatarischen Bäuerin (Anna Grünewald) mit Fett eingerieben und umsorgt. Legende oder Historie? Überzeugend rheinländisch eingefärbt, stellt sich Simon Grünewald in der Titelrolle vor: geboren in Krefeld am 12.5.1921, naturwissenschaftlich interessierter Hitlerjunge, Mitreise in einem Wanderzirkus, 1941 Studium der Chemie, Physik, Biologie, ab 1946 Bildhauerei. Seit jener Rettung auf der Krim sind Fett und Filz sein bevorzugtes Material... Willenbacher streift im Kurzflug 3000 Jahre Kunstgeschichte von der Höhlenmalerei bis zu Beuys’ „Hasengrab“, einer Installation aus Schrottwirrwar. Der ehemalige Meisterschüler Matarés tritt offiziell aus der Kunst aus, macht Furore mit der These: „Der Fehler fängt damit an, sich Keilrahmen und Leinwand zu kaufen.“ Er wendet sich gegen Materialismus und Konsumdenken der Wirtschaftswunderzeit, sieht das Gleichgewicht zwischen Vernunft/Wissenschaft und Empfindungen/Spiritualität gestört. Er ist weder Marxist noch 68er, sondern von der Anthroposophie Steiners geprägt, für ihn der Weg, den Menschen aus vernunftgesteuerter Eindimensionalität zu befreien. Alles Gestalten leitet Beuys von zwei Polen ab: Wärmepol für das Ungeordnete, Organische, Emotionale, Kältepol für Vereinsamung, Konsumzwang. Plastik, die gestaltende Umformung, braucht den Wärmepol. Filz schützt und wärmt, der Filzhut speichert kreative Gedanken. Fett ist menschliche Aufbausubstanz und Energiequelle. Der Hase symbolisiert Naturverbundenheit und Fruchtbarkeit, die Honig spendenden Bienen, ebenfalls bedeutendes Ausdrucksmittel, gelten als Bindeglied zwischen irdischer und himmlischer Zone. Kernsätze: Jeder Mensch ist ein Künstler, ein lebenslanger Student. Er muss soziale Wärme einsetzen, um die Menschheit zu verbessern. Beuys trat für Basisdemokratie und Freiheit des Bildungssystems ein, war 1980 Gründungsmitglied der Grünen. Er suchte die Provokation, steigerte sich in künstlerische Exzesse, verlor seine Professur in Düsseldorf. Schlagzeilen machten Happenings wie die Destruktion eines Konzertflügels oder die ausgedehnte Vernissage „Wie man dem toten Hasen Bilder erklärt“ hinter verschlossenen Schaufenstern, an denen sich das Straßenpublikum die Nasen platt drückte. Mit „Zeig deine Wunden“, einer umstrittenen Leichenbahren-Installation, thematisierte er den Anfang von Kreativität im Leiden. Credo des 1986 verstorbenen Politkünstlers: „Lebensqualität liegt im Entsagen und nicht im Nehmen. … Da liegt die Heiligkeit des Menschen.“ Große Wirkung ging von der Zwischenmusik aus: Die „Beuys Group“ mit Joachim Wulff, Pit Kaiser, Thomas Rott, Helmut Weber und Martin Kellner stellte unter anderem mit „Sweet Jane“ (Velvet Underground) oder „Take a walk on the wild side“ (L.Reed) Zeitkolorit her und powerte mit „Keine Macht für niemand!“ Im Kontrastprogramm: John Lennons große Utopie „Imagine“, und, als nachdenkliche Zäsuren, weiche, lineare Klavierstücke von Eric Satie, dessen Minimalismus Beuys schätzte. Komödiantische Farbtupfer setzten Szenen mit Simon Grünewald und Sandy Jibrow. Als unbedarft zupackende SPD-Genossen kühlten sie babbelnd Bierflaschen in der legendären Kinderbadewanne, im Dialog Beuys/Claudia Roth redeten sie hoffnungslos aneinander vorbei. Zwischendurch erzählte Monika Reuter die Märchen vom süßen Brei und vom Sterntaler (Moral: Wer alles verschenkt, wird reich belohnt). Tief berührend in ihrer eindringlichen Schlichtheit: die reinen Mädchenstimmen der Schwestern Carla und Hannah Tropf mit Elisabeth und Friederike Sauer in schönen alten Liedern von Hasen und bunten Herbstwäldern. Beuys mit allen Sinnen wahrnehmen: Honigverkostung und Lavendelduft als Metapher für die ätherische Ausbreitung von Ideen brachte Jutta Willenbacher ein, ebenso die detailverliebte Ausstattung mit Bildern, Büchern und einem Kastenobjekt, aus dem ein goldener Osterhase neben dem Dürer-Artgenossen grüßte. Bleibt der Hinweis auf die Pflanzaktion von 27 Bäumen in Kibo in Anlehnung an Beuys’ 7000 Eichen bei der Kasseler Documenta. Gesucht werden noch Sponsoren und Paten.

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