Donnersbergkreis „Du musst verrückt sein!“

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Sippersfeld. 1000 Spiele! Anfang Oktober knackte Schiedsrichter Christian Reichert diese magische Grenze. Der 38-jährige Sippersfelder begann das Pfeifen 1994 im Kreis Alzey, leitete später in sieben Jahren über 40 Partien der Oberliga und erlebte auf den Fußballplätzen einiges an Kuriositäten. Ein Gespräch über peinliche Momente, strittige Entscheidungen und gebrochene Prothesen auf dem Rasen.

11. Oktober, Sportplatz Siegelbach, B-Klasse, Ihr 1000. Spiel als Referee: hatten Sie besondere Gefühle, als Sie die beiden Teams aufs Feld führten, Herr Reichert?

Nein. Ein, zwei Tage davor war das noch relevant. Aber das war dann eine normale Partie über 90 Minuten, die ich sauber runterpfeifen wollte. Von zwei, drei Spielern wurde ich zuvor angesprochen. Da musste ich auch sagen: „Jungs, alles gut. Wir konzentrieren uns wieder auf den Fußball.“ Über 21 Jahre liegt Ihr erster Einsatz zurück. Erinnern Sie sich? Lieber nicht (lacht). Ich hatte null Ahnung, gerade erst auf der Schiri-Sitzung meinen Schein abgeholt. Das Spiel war in Armsheim, D-Jugend. Gott sei Dank war ein Mentor da, der mir alles erklärt hat. Irgendwann sagte er von außen: „Christian, die Pfeife ist dafür da, um reinzupfeifen.“ Das rät er mir scherzhaft heute noch. 1000 Spiele bedeuten umgerechnet – ohne Verlängerungen – 90.000 Minuten Konzentration pur, über 30 komplette Fußball-Spielzeiten. War da vielleicht noch mehr drin? Zu 100 Prozent hätte ich öfter pfeifen können in der Zeit. Ich bin seit 21 Jahren unterwegs, die Doppelbelastung am Wochenende gab es fast immer. Als Schüler habe ich es pragmatisch gemacht, so mein Taschengeld verdient. Aber Schiri wird man nicht des Geldes wegen. Mein Talent als Kicker reichte gerade für die B-Klasse, ich hab` was anderes gesucht. Ich hoffe, es werden auch noch mehr Spiele. Das mit den 2000 wird aber eng – ich pfeife nur noch ein, zweimal im Monat. Es gab Zeiten, da wurde drum gebeten, drei bis vier Spiele pro Woche zu leiten. Bei mir stand dann alles hinten an. In den ersten Jahren habe ich alles gemacht. Der Druck auf die Psyche ist enorm. Wie hält man das so lange, gerade in höheren Klassen, aus? Lapidar gesagt: Du musst verrückt sein! Es gibt so viele Momente, in denen man denkt, „Wieso mache ich das hier?“ Zum Glück ist der Großteil meiner Karriere so verlaufen, dass ich nicht oft als arrogant betitelt wurde. Ich agiere eher wie die englischen Schiris. Die reden. Heute habe ich nicht mehr den Druck, so viele Karten zeigen zu müssen. Die Spieler wissen, wenn der Reichert pfeift, wird es human. Man muss seinen Still finden. Was heißt hier verrückt? Von allen Seiten wird man erst einmal kritisch beäugt. Normal. Woche für Woche ist das anstrengend, da macht man sich Gedanken, warum man so oder so entschieden hat. Wenn ich nicht früh den Sprung hoch geschafft hätte, würden wir heute nicht hier sitzen. Mit 15 hat mich einer böse angeschaut und ich hab` fast geheult. Durch die Schiedsrichterei lernt man, sich durchzusetzen. Man wird charakterfest. Und jetzt ans Eingemachte: Dem Unparteiischen fliegen auch mal harsche Worte an den Kopf. Was mussten Sie sich alles gefallen lassen? Das Beste ist für mich immer noch: Föhnfrisur. Das war die beste der lustigsten Beleidigungen. Einmal hatte auch einer gerufen „du Ferkel“, als ich keine Gelbe gezogen habe. Wochenlang hab` ich mir Gedanken gemacht, wo da jetzt der Zusammenhang war. Wieso bin ich ein Ferkel, wenn ich keine Gelbe zeige (lacht)? In 21 Jahren hat aber noch keiner gedroht, mich zu schlagen. Was gar nicht geht, sind Beleidigungen gegen Eltern oder Frau. Da ballt man die Faust in der Tasche, kann aber nichts machen. Bizarre Rituale, grenzwertige Plätze, Verwirrung auf dem Rasen. Was war das Kurioseste, was Ihnen passierte? Woran ich immer denke und noch heute drüber diskutiere, das war mein zweites Oberliga-Spiel, Engers gegen Völklingen. Handspiel von Engers auf der Torlinie, klarer Elfer, klare Rote. Ich zücke – als mich hinten einer antippt und eine Horde Völklinger reklamiert: „Schiri, der war`s nicht!“ Ich schaue zu den Assistenten, keiner weiß es. Was also machen? Erst Luft holen. Da kommt ein großer Blonder auf mich zu, gibt zu, er war`s. Ich gebe ihm Rot, dann sagt er: „Ach Schiri, war doch nur Spaß.“ Ich stand da wie der letzte Depp, eine Katastrophe. Irgendwann habe ich mir gedacht: „Reichert, wenn du so weiter machst, hast du bald alle durch.“ Schließlich hatte ich den Richtigen, er sah fast so aus wie der Erste, dem ich Rot gezeigt hatte. Ich sprach mit ihm, er gestand, ich nahm die vorherige Rote zurück. Dreimal Rot gezeigt und nur einer musste gehen. In 1000 Spielen muss aber noch mehr vorgefallen sein... Ich erinnere mich auch an einen Schiri-Assistenten an der Linie. Der hatte nur ein Bein und auf der anderen Seite eine Prothese. Es kommt ein schneller Gegenzug in seine Hälfte, alles schreit „Abseits!“ – und ich suche meinen Assistenten. Gute zehn Meter hinter mir hat er dann gelegen. Ohne Bein. Er hatte sich die Prothese ausgerissen. Viele Zuschauer waren geschockt. Sie dachten erst, er hätte wirklich ein Bein verloren. Der Assistent nahm`s locker. In der Kabine witzelte er noch: „Christian, ich hab` mir für dich ein Bein ausgerissen“ und wackelte mit dem Bruchstück herum Zum Abschluss, Hand aufs Herz: Was war Ihr größter Fehler? Das ist schwierig. Aber mir kommt da noch manchmal eine Szene in den Kopf: Es war das Verbandspokalspiel SC Idar-Oberstein gegen Bad Kreuznach. Die Eintracht hatte einen Ex-Profi dabei, der sich immer wieder theatralisch fallen ließ. Bei jedem Kontakt. Wenn du das als Schiri weißt, stellst du dich drauf ein. Er fiel, schrie, ich ließ laufen. Ein dummes Gefühl, wenn du plötzlich siehst, es ist doch was. Er hatte sich das Schienbein gebrochen. Was dabei jedoch das Schlimmste war: Ich ging hin und meinte: „Komm, steh auf! Es wird schon nicht so arg sein“. Das ärgert mich noch heute und ist ein schwarzer Punkt in meiner Karriere. Da bin ich selbst vor mir erschrocken.

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