Literatur Sprachnomadin: Uljana Wolf und ihr ausgezeichneter Essay „Etymologischer Gossip“

Zwischen Vandalismus und Wiedererweckung: Autorin Uljana Wolf.
Zwischen Vandalismus und Wiedererweckung: Autorin Uljana Wolf.

Unter der Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz hat vor vielen Jahren die Auseinandersetzung der Dichterin Uljana Wolf mit der Sprache begonnen. Sie versuchte damals als Schülerin ihr eben gelerntes Russisch anzuwenden und damit auf Passanten zuzugehen. Es war die Fremdheit der Sprache, die sie faszinierte, die körperliche Erfahrung von ungewohnten Sprachklängen, mit denen die Routine der Alltagssprache durchbrochen wird.

Diese Sensibilität für einen flirrenden polylingualen Zwischenraum, in dem sich die Grenzen des scheinbar selbstverständlichen Systems „Muttersprache“ auflösen, ist seither die elementare poetische Passion der 1979 in Ost-Berlin geborenen Schriftstellerin geblieben. In ihrem Prosabuch „Etymologischer Gossip“, das soeben mit dem Leipziger Buchpreis für Sachbuch/Essayistik ausgezeichnet wurde, versucht Uljana Wolf ein eigenes Genre zu etablieren: den „Guessay“, der seinen Namen bei der englischen Vokabel „the guest“ (deutsch: „Gast“) borgt, um damit die Gastlichkeit zu betonen, die den Sprachexpeditionen der Autorin eigen ist.

Es geht Wolf hier um ein multilinguales Spiel: um die Wanderungsbewegungen der Wörter, und damit auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und der Migration. In Wolfs Verständnis von „Etymologischem Gossip“ haben die Sprachen dabei stets offene Grenzen. Das einst vom Philosophen Friedrich Schleiermacher etablierte Dogma, dass der Mensch sich für die Zugehörigkeit zu einer „Muttersprache“ entscheiden müsse, wird von ihr verworfen. Statt auf das Konzept „Muttersprache“ vertraut Wolf auf die Erfahrung einer permanenten Unzugehörigkeit – auf ein „translinguales Schreiben“ als einer Form des „Schreibens am Rand, auf der Kippe“.

Uljana Wolf fragt in den Essays von „Etymologischer Gossip“ nach der Herkunft und der Klangverwandtschaft der Wörter, nach ihrer Geschichtlichkeit und der Beziehung zu benachbarten Wörtern. Immer wieder gelangt die Dichterin dabei an Grenzpunkte des Ästhetischen.

In ihrem faszinierenden Essay „Ausweissen, Einschreiben“ denkt sie zum Beispiel über Strategien der Übermalung von poetischen Texten nach. Eine Übersetzung Rainer Maria Rilkes, die dieser von Sonetten der englischen Dichterin Elizabeth Barren-Browning angefertigt hat, hat Wolf mit einer ungewöhnlichen Prozedur bearbeitet. Sie verwandelt den Text der Rilke-Übersetzung mit Hilfe des guten alten Tipp-Ex-Pinsels, mit Tusche, Ausradierung oder Durchstreichung dergestalt, dass neben vielen Strichen und Linien nur noch wenige Wörter oder Wortpartikel auf dem Papier zurückblieben. In den entstandenen Lücken, dem Weiß auf der ursprünglichen Textfläche entsteht – so Wolf – eine poetische Energie, die „zwischen Vandalismus und Wiedererweckung changiert“.

Polylinguale Tollkühnheiten dieser Art, verknüpft mit überaus originellen Durchquerungen entlegenster Wortfelder, hat Wolf bereits in ihren Gedichtbänden „Falsche Freunde“ (2009) und „Meine schönste Lengevitch“ (2013) vorgeführt. Als Vorbild für dieses entschlossene Nomadisieren zwischen den Sprachen nennt sie im „Gossip“-Buch die Prosagedichte von Ilse Aichinger, der gleich drei Essays gewidmet sind. An Aichingers Text „Galy Sad“ kann Wolf eindrucksvoll zeigen, wie sich aus winzigen Wortverschiebungen ein eigener Sprachkosmos entwickeln kann. Hier wird die gemeinsame Grundüberzeugung sichtbar, die Ilse Aichingers und Uljana Wolfs Poetik verbindet: Damit die Wörter wieder zu sich selbst kommen können, müssen sie erst einmal fremd werden. Poesie ist ohne die Erfahrung dieser Fremdheit nicht zu haben.

Lesezeichen

Uljana Wolf: „Etymologischer Gossip. Essays und Reden“; kookbooks, Berlin; 232 Seiten, 22 Euro.

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