Kolumnen Online-Kolumne: Kampf der Kreaturen

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„Die Vögel“ ist eine Hammer-Kurzgeschichte von Daphne du Maurier. Ich habe sie diese Woche zum ersten Mal gelesen und danach sehr bedauert, dass das so lange gedauert hat und ich die ganze Zeit bei „Die Vögel“ immer nur den Hitchcock-Film im Kopf hatte, in dem das Grauen damit losgeht, dass eine Möwe Tippi Hedrens hochtoupierten Dutt attackiert. In der Erzählung kommen weder Tippi Hedren, also die Figur, die sie spielt, noch ihre Frisur vor. Da geht um den Überlebenskampf einer Farmerfamilie in Cornwall, die sich vor Amsel, Drossel, Fink und Star und der kompletten plötzlich und offenbar grundlos aggressiv gewordenen Vogelschar im verbarrikadierten Haus schützen muss. Möwen gibt’s auch, sie greifen vom Meer aus an.

Die Masse der Klasse

Der Grundgedanke ist so grandios wie unheimlich: Was würde passieren, wenn sich eine bestimmte Klasse gar nicht mal so großer und gemeinhin als harmlos geltender Tiere, in diesem Fall Vögel, aus unerfindlichen oder auch naheliegenden Gründen gegen die Menschheit zusammentut und damit wegen ihrer puren Masse erfolgreich ist? Wegen ihrer puren Masse und wegen der Todesverachtung – vielleicht auch Blödheit – von Einzelvögeln, die drauf pfeifen, dass auch sie bei Angriffen ausnahmsweise mal vom Gegner erschlagen werden oder sich beim ungebremsten Sturzflug den Hals brechen. Die ganz vorne trifft’s zuerst, aber das ist beispielsweise den Silbermöwen egal, sie preschen vor und kriegen’s ab, während die Mantelmöwen erst mal schlau abwarten und erst dann zupicken, wenn das alleine kämpfende Opfer schon müde ist. Die Vögel arbeiten in Schichten, wenn die vorne tot sind oder nicht mehr können, kommen die nächsten. So ist das zumindest bei Daphne du Maurier. Die Masse macht’s, Quantität statt Qualität, ohne jetzt einzelnen Vogelarten zu nahe treten zu wollen.

Gruselige Beharrlichkeit

Und die Vögel sind hartnäckig, entschlossen, sie lassen einfach nicht ab, sie schaben und kratzen und hacken und reißen unermüdlich am Farmhaus herum, „mit der kundigen Präzision von Maschinen“ arbeiten sie sich Millimeter für Millimeter vor, sie versuchen’s durch den Kamin, durch die mit Brettern vernagelten Fenster, jedes noch so winzige Löchlein verstehen sie zu vergrößern, mit Beharrlichkeit und Teamwork. Bei der Familie im verrammelten Haus wächst Stunde um Stunde das Grauen, während das Flügelgeflatter der Eindringlinge lauter wird, das „Rascheln und Drängen unzähliger aneinander gepresster Leiber“. Tagsüber, wenn Ebbe ist, machen die Vögel Pause, sitzen in endlosen Reihen auf Strommasten und Dachfirsten, beobachten die Menschen, lernen. Gruselig ist das, wirklich gruselig.

Kratzende und Schaben

Zumal ich ganz genau weiß, was die Farmerfamilie in der Kurzgeschichte durchmacht. Gut, lebensbedrohlich ist die Situation hier jetzt nicht, aber auch ich kenne den Schrecken, wenn riesige Mengen kleiner Tiere unaufhörlich und ungefragt ins Haus eindringen wollen und sie sich einfach durch nichts aufhalten lassen. Nicht durch Fliegengitter, nicht durch folkloristische Terrassentürbänder, nicht durch die hilflos mal hier, mal da aufklatschende Fliegenklatsche und durch Rollläden schon dreimal nicht. Es bleibt immer irgendwo eine kleine Ritze, das Fenster ganz schließen geht momentan bei der Affenhitze nicht, und so höre auch ich angsterfüllt im Bett liegend, wie die Kreaturen außen kratzen und schaben und sirren und brummen und hereinwollen zu mir, unbedingt. Immer mal wieder schafft es eine, weitere folgen, und auch hier geht es ganz nach dem Prinzip: Sie kann uns nicht alle erwischen. Und irgendwann ist sie müde. Dann kommt bei uns erst die zweite Schicht.

Beobachten und lernen

Wo die Stechmücken sich tagsüber aufhalten, wenn auch sie Pause machen, weiß ich nicht. Möglicherweise ebenfalls in Reihen auf Stromleitungen und Dachfirsten, wo ich sie aber wegen ihrer Winzigkeit auf die Entfernung nicht sehen kann. Aber sie sehen mich, da bin ich mir nach der Lektüre von „Die Vögel“ ganz sicher. Sie beobachten mich, lernen. Dann schicken die gerissenen Mantelstechmücken die tumben Silberstechmücken vor, „fliegt ihr schon mal los, wir kommen dann nach“, und wenn ich dann irgendwann erschöpft vom an die Wand klatschen der Doofis in die Kissen sinke, kommen die Cleveren und fressen mich auf. Oder zapfen mir zumindest kleinere Mengen Blut ab, das ich ihnen gerne gönnen würde, wenn die Einstichstellen danach nicht so elend jucken würden.

Dann flappt’s auch noch

Da flappt es fett gegen den Rollladen, kurze Pause, es flappt an der Schlafzimmerwand, Licht an, eine Motte so groß wie ein Sonntagsaufbackbrötchen taumelt mir schnurstracks mit ihrem schweren, pudrigen Körper an die Schläfe, und mein letzter Gedanke ist, dass ich Gottseidank keinen auftoupierten Dutt habe, in dem sich die weiteren Motten, die ja nun unweigerlich folgen werden, verhaken könnten. Dennoch: Das war’s. Wir sind alle verloren.

Die Autorin

Sigrid Sebald (51) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten.

Die Kolumne

Christine Kamm und Sigrid Sebald schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne „Ich sehe das ganz anders“ über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

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