Meinung Gut gemeinte Vorsätze: Eine halbe Stunde Schlankheitswahn

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Wenn es so etwas wie abspecken gibt, was ist denn das Gegenteil? Specken? Haben Sie es über die Feiertage es auch so schön krachen lassen? Haben die Gläser geklirrt und hatte die Spülmaschine mal so richtig was zu tun, weil es über die Feiertage so viel leckeres Essen gab? Und nun schwingt die Waage sich zur Überbringerin schlechter Nachrichten auf? Ist das nicht egal?

Nein, schreien die Regale an den Kiosken und in den Supermärkten! Im Januar müssen die überflüssigen Pfunde wieder runter. Das zumindest legen die Schlagzeilen vieler Magazine nahe. „Schlank werden, schlank bleiben“, heißt der Aufmacher des „Focus“, garniert vom Bild einer schlanken Hüfte. Die „Bild“ startet eine neue Serie: „Abnehmen ohne Verbote. Die Januar-Diät – bis zu 8 Kilo in vier Wochen weg.“ Die „Fit for Fun“ bringt sogar zum Jahreswechsel ein großes Sonderheft heraus: „Food“. Auf dem Titel ist zum Glück etwas Essbares abgebildet (Einfach & lecker. Wie du Low Carb mit Goji, Ingwer & Co. in den Alltag integrierst). Das muss ich – gerade zurück im Alltag – natürlich lesen. Vom Titelblatt der „Shape“ lächelt mir eine nette junge Dame im Sportoutfit entgegen. Der Januar/Februar-Ausgabe liegt sogar ein kleines Sonderheftchen bei: „10 Kilo weg ohne Anstrengung. 30 geniale Figur-Knaller-Rezepte. Für viel beschäftigte Frauen.“ Dabei dürfte die Damenwelt sich generell angesprochen fühlen, wenn es da heißt: „Alle Gerichte fertig in unter 20 Minuten.“ Also gut, tauchen wir genau eine halbe Stunde einmal ein in diesen kleinen Kosmos der purzelnden Pfunde. Und zwar mit einem Lächeln auf den Lippen, weil es nichts Schöneres gibt, als mit gesundem Appetit das zu essen, was einem schmeckt.

Rote Bete - bäh

Auf die Seiten, fertig los. Shape, Seite 40. Trink dich gesund! Ah, das hatte ich mir schon gedacht. Es sind Rezepte für Smoothies. Das erste gleich mit meinem Liebling! Rote Bete. Bäh. Oder sollte ich es mir nochmal überlegen mit der roten Knolle? Detox-Kur klingt ja doch sehr verlockend. Zur Erklärung heißt es: „Betanin gibt der Roten Bete die kräftige Farbe. On top entlastet das Antioxidans die Leber und boostet unser Immunsystem.“ Ja, nach dem Specken wird geboostet. Im Heft wird auch noch auf immerhin einer ganzen Seite Hormon-Yoga untergebracht: vier Übungen, Schulterbrücke, Schulterstand, Ausfallschritt und Liegende Taube, für alle Fälle. „Oft sind Hormone schuld, wenn wir müde, unausgeglichen oder unruhig sind. Diese vier Hormon-Yoga-Übungen bringen uns wieder in Balance.“ Gut, hätten wir das auch erledigt. Eine Matte oder einen Teppich hat ja jede(r) zu Hause. Für alle – also auch Männer – sind dann eher die Tipps der „Bild“, die für den im GU Verlag am 8. Januar erscheinenden Band „Artgerechte Ernährung“ von Matthias Riedl wirbt. Der Experte setzt vor etwa 2,5 Millionen Jahren an, als unsere Vorfahren erst dazu übergingen Fleisch zu verzehren. Eine seiner Thesen: „Auch über 50-Jährige können so zehn bis 15 Jahre hinzugewinnen, wenn sie ihre Ernährung umstellen.“ Elf Minuten sind nun schon vergangen. Und in meinem tiefsten Inneren werden die Ahnen angerufen. Da fängt das Jahr doch richtig gut an! Das Food-Heft von „Fit for Fun“ passt nun trotzdem noch, denn es sind sehr viele vegetarische Gerichte in der Sonderausgabe wie „Orientalische Würzmöhren“, „Kartoffelgulasch mit Paprika“ oder – schon wieder die Knolle – ein „Rote-Bete-Salat mit Orangenfilets“.

Endlich hat das einer begriffen

Der „Focus“, der – ganz schlau – schon zum Fest erschienen ist und damit die Welle vorweggenommen hat, spricht das Individuum direkt an: „Die personalisierte Diät“. Endlich hat das einer begriffen. Es gab ja auch nicht unter jedem Tannenbaum eine Gans. „Jeder Mensch isst anders“, schreiben sie da. Und was für eine Überraschung: Brot ist doch nicht an allem schuld. Eine Scheibe Vollkornbrot ist mit folgendem Text garniert: „Bereits 90 Gramm Vollkornprodukte täglich verringern das Risiko für koronares Herzleiden, Krebs und Schlaganfall.“ Eine Scheibe Vollkornbrot ist zum Frühstück also gar nicht so verkehrt – mit einem mageren Aufschnitt. Bei mir wäre es eher ein Aufstrich. Aber schon klar, die erste Mahlzeit sollte eher kalorienreduziert sein. „Dick ab 40.“ Das haben wir doch auch schon lange gewusst. „Mit dem Lebensalter steigt das Risiko für Übergewicht, da immer weniger Energie gebraucht wird.“ 25 Minuten im Diäten- und Low-Carb-Universum unterwegs. Also ganz schnell mal noch den „Stern“ in die Hand genommen, denn das ist dann doch mal ein ganz anderes Versprechen. „Neustart. Dieses Jahr wird alles besser! Neue Erkenntnisse aus der Forschung: wie wir unsere guten Vorsätze endlich verwirklichen können.“ Gilt das auch für meine Essgewohnheiten? Hmmmmh. Also, da muss ich mir nun gedankliche Brücken bauen. Denn das Thema „Neustart in ein besseres Leben“ hat mit dem Thema Ernährung auf den ersten Blick erst einmal nichts zu tun. Es geht in dem Artikel darum, dass unser Hirn Automatismen liebt.

30 Minuten schlechtes Gewissen

Nun überziehe ich mein Zeitbudget für den Ausflug in die Welt der Kalorien. Aber das muss sein, denn die Formulierung ist schön: Uns hat die dicke Tante Gewohnheit im Griff. Ja, aber von Februar bis Silvester. Nur im Januar sagen wir ihr ein ganz kleines bisschen den Kampf an, weil uns zwischen der Schokolade und den Gummibärchen im Supermarkt die schlanken Models auf den Umschlagseiten der entsprechenden Magazine ein schlechtes Gewissen machen. Mir aber nur für eine gute halbe Stunde! Nun gehe ich nämlich essen und lasse es mir schmecken!

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