Rheinpfalz Trier feiert Marx: Weltrevolution und Weihrauch

Die Karl-Marx-Figuren stammen vom Künstler Ottmar Hörl. Sie wurden 2013 bei der Präsentation der Pläne für die diesjährige Karl-
Die Karl-Marx-Figuren stammen vom Künstler Ottmar Hörl. Sie wurden 2013 bei der Präsentation der Pläne für die diesjährige Karl-Marx-Schau in Trier vorgestellt. Aber was kann uns dieser Denker heute noch sagen?

Wie eine kleine, sehr katholische Stadt mit ihrem großen, gar nicht religiösen Erbe umgeht

Das Glaubensbekenntnis gibt es im sehr katholischen Trier jetzt auch als Ringbuch, DIN A4, mit Kunststoffeinband. Das Stadtmuseum Simeonstift hat das „Kommunistische Manifest“ zum 200. Geburtstag des wohl größten Sohnes der Stadt in einfacher Sprache herausgegeben, eine Art Karl Marx für Dummies. Und das soll jetzt nicht abwertend klingen, denn man fragt sich schon, wie einer die Welt für eine Weile aus den Angeln heben konnte, der sich in seinen Schriften mit „aliquoten Teilen des Wertprodukts“ beschäftigt hat. Trotzdem reden gerade sehr viele über diesen Philosophen, und nicht nur, weil das ZDF seine Mediathek mit Marx-Dokumentationen flutet. Die Frage lautet: Was fasziniert die Leute an diesem Mann?

Ein bisschen Marx geht immer

An diesem Nachmittag stehen zwei junge Chinesinnen vor der Porta Nigra, die sich mit ihren Smartphones ablichten, Trier gilt im Reich der Mitte ja im Moment als Mekka des Kommunismus. Unweit davon, versteckt hinterm Dom, hat Hans Günther Ullrich, mäßig genauer Seitenscheitel, vom Körperbau Typ Kreisläufer, sein Büro. Der Domvikar ist Bischöflicher Beauftragter für die Aktion Arbeit im Bistum Trier, das sich am Marx-Jahr beteiligt. Ullrich, 57, bittet an einen Tisch, seine Sekretärin, die mit Nachnamen, kein Witz, Marx heißt, bringt Kaffee. Er schiebt eine Broschüre herüber, darauf steht: „Integrierter Arbeitsmarkt – Ein Weg zur Auflösung der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit“. Ullrich hat das Papier verantwortet, erst kürzlich war er in Berlin, um es Politikern vorzustellen. Darin heißt es etwa: „In unserer Gesellschaft ist im Zuge der Globalisierung ein im angelsächsischen Raum entstandenes Wirtschaftsverständnis tonangebend geworden: bei der gesellschaftlichen Einordnung der komplexen menschlichen Realität des Arbeitens und Wirtschaftens wird dem Einzelaspekt der finanziellen Rentabilität unbedingter Vorrang vor allen anderen humanen, sozialen, kulturellen Aspekten eingeräumt.“ Ein bisschen Marx geht dann irgendwie doch immer.

Kein höherer Wert mehr als Geld?

Wenn man diese Sätze liest und daran denkt, dass die Post jetzt nur noch Paketfahrer mit unbefristeten Arbeitsverträgen ausstatten will, die ihre Touren in einer festgelegten Zeit abreißen, dass sich Oberstufenschülerinnen im TV von Heidi Klum filetieren lassen und die ehemalige Nachbarin, die ihr halbes Leben die Wohnungen von Fremden geputzt und nebenher drei Kinder großgezogen hat, jetzt aufs Amt muss, weil die Rente nicht reicht, dann fragt man sich schon, was in diesem Land schiefläuft. Marx fasst dieses Gefühl so zusammen: „Die Bourgeoisie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst.“ Soll heißen: Der Mensch wird zur bloßen Produktivkraft degradiert. Und während weiße Wolken über die Domspitze ziehen, wird der Theologe Ullrich, der sonst wegen seiner eindringlichen Freundlichkeit problemlos den Familienvater in einer Vorabendtelenovela geben könnte, sehr ernst. „Wissen Sie, was das Problem ist? Wir haben es zugelassen, dass wir keinen höheren Wert mehr haben als Geld. Auch deshalb bin ich Kapitalismuskritiker.“

"Das Bild weiten"

Dabei stand Ullrich einst auf der dunklen Seite der Macht, der Spätberufene war Geschäftsführer eines Automobilzulieferers. Als Anfang der 1990er-Jahre der Absatz massiv einbrach, musste er reagieren, und reagieren heißt für Manager ja meistens, Personal abzubauen. Er konnte den Großteil der Belegschaft halten, doch manchen musste er auch sagen, dass es für sie nicht weitergeht. Und dann ist es irgendwie passend, dass einer, der mal Wirtschaftsboss war und jetzt im Namen des Herrn unterwegs ist, sich im Bistum um das Marx-Jahr kümmert. „Ich will aber betonen, dass wir seine Theorien nicht einfach übernehmen, wir wollen sie ergänzen, das Bild weiten, denn im Gegensatz zu Marx muss sich im christlichen Glauben niemand seinen Wert erarbeiten. Dennoch hat er mit Sicherheit viele richtige Fragen gestellt“, sagt Ullrich, der, man ahnt es schon, dasselbe Trierer Gymnasium besucht hat wie Marx.

"Das Sinnangebot der Wirtschaft bröckelt"

Was Arbeit eigentlich ist und was sie für den Menschen bedeutet, das ist schon vor einiger Zeit nebulös geworden, obwohl nicht nur in SPD-Ortsvereinen regelmäßig darüber diskutiert wird. Der neue Goldstandard ist die 80-Prozent-Stelle, und wer durch die Bahnhofsbuchhandlungen läuft, sieht überall Ratgeber für den Weg zu einer besseren Work-Life-Balance, was ja nichts anderes heißt, als dass Leben und Arbeit zwei verschiedene Dinge sind. Besonders junge Akademiker im ersten Job erwecken häufig den Eindruck, dass sie möglichst schnell in die Elternzeit verschwinden möchten, notfalls auch ohne Kind. War Arbeit nicht mal etwas, das Menschen stolz gemacht hat, etwas, das größer war als der Betrag auf dem Lohnzettel? „Das hat damit zu tun, dass das Sinnangebot der Wirtschaft bröckelt. Alles wird immer intensiver, immer schneller. Aber Menschen wollen spüren, dass sie etwas Sinnvolles tun“, sagt Ullrich.

Hat der Kapitalismus Humor?

Vor diesem Hintergrund ist es dann auch kein Gewerkschaftsporno, wenn man die wohl richtige These von Marx ernst nimmt: Arbeit ist für ihn nicht nur der pure „Einsatz von Energie im physikalischen Sinne, sondern die bewusste Verwandlung der Welt durch die Menschen“, zitiert Jürgen Neffe in seiner fulminanten Biografie den Denker aus Trier. Und da sind sich der Domvikar und der Philosoph auch ziemlich einig, sie drücken es nur anders. Ullrich sagt: „Arbeit ist die Selbsterzeugung des Menschen, er ist, was er schafft.“ Und Marx meint: „Der erste geschichtliche Akt dieser Individuen, wodurch sie sich von den Tieren unterscheiden, ist nicht, dass sie denken, sondern dass sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren.“ Es ist Abend geworden in Trier. Unweit des Geburtshauses von Karl Marx hängt ein Schild neben der Eingangstür eines Supermarktes, darauf steht: „Willkommen im Karl-Marx-Viertel“. Auf einem Poster daneben ist das Sonderangebot der Woche zu sehen, eineinhalb Liter Pepsi gibt es für 55 Cent, der Kapitalismus hat ja doch manchmal Humor.

"Ich bin Marxist"

Schräg gegenüber, am Viehmarkt, ist das Simplicissimus, eine Kneipe mit einem alten Klavier und Wänden, die vermutlich im Dreißigjährigen Krieg das letzte Mal weiß waren. Der Weltgeist trifft sich hier unter einem Poster von Che Guevara, und an diesem Abend sitzt dort Konni Kanty, 29, an einem Tisch. „Ich bin Marxist“, sagt er und bestellt sich ein Pils. Seine Eltern sind in der DDR aufgewachsen, der Vater war bei der SED-Jugendorganisation FDJ, später haben sie in den Westen „rübergemacht“. Kanty, verheiratet, zwei Kinder, interessierte sich früh für Politik: „Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man die Dinge kritisch hinterfragt. Meine Mutter hat sich zwar nicht gewünscht, dass ich mich bei den Kommunisten einbringe, aber sie fand es gut, dass ich mich engagiere“, sagt der Vorsitzende der SDAJ-Ortsgruppe Trier, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, die mit der DKP verbunden ist, der Deutschen Kommunistischen Partei.

"Neue Antworten finden"

Kanty trägt einen blonden Vollbart und hat ein ziemlich breites Lächeln, er sagt, dass er nicht mehr zusehen wollte, dass Leute verhungern oder in Kriegen verrecken. An Marx fasziniert ihn vor allem, dass er der erste Denker gewesen sei, der eine stimmige Analyse zu Entstehung und Funktionsweise des Kapitalismus geliefert habe. Wenn man weiß, dass Textilriesen ihre Shirts in Bangladesch in abgefuckten Buden zu Hungerlöhnen produzieren lassen, und folgenden Satz von Marx liest, dann liegt Kanty wohl nicht ganz falsch. Im „Kapital“ heißt es: „Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umgang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu.“ Es gäbe weniger Leid, da ist sich Kanty sicher, wenn der Kapitalimus überwunden würde. Marx habe allerdings keinen Lehrplan aufgestellt, den man einfach abarbeiten könne, „wir müssen neue Antworten finden“.

Die große Unsicherheit

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war eine Antwort aber für viele klar: Die Geschichte hat bewiesen, dass der Kapitalismus gesiegt hat. Doch wo etwas scheitert, das weiß man aus dem eigenen Leben, entsteht auch immer Unsicherheit. Und wer jetzt in die Gesichter der Leute blickt, die montags vor der Semperoper in Dresden mit Deutschlandfähnchen in der Hand gegen die Islamisierung des Abendlandes anschreien, der kann schon auf die Idee kommen, dass da eine geistige Heimatlosigkeit ihren Ausdruck findet. Vermutlich liegt das auch am Verlust der großen Weltbilder, von denen Marx eines geliefert hat. Es war viel einfacher, sich einzufinden in einer Gruppe, als die Welt noch in zwei Blöcke, in Kommunisten und Antikommunisten, geteilt war. Dass die CSU jetzt in jeder bayerischen Behörde Kreuze an die Wände schlagen lässt, wird diese Suche nach einem Wir wahrscheinlich nicht beenden.

Ärger über den Marx-Kommerz

Im Simplicissimus ist Kanty inzwischen auf Sprite umgestiegen, ein Symbolgetränk des Konsums, aber wer kann schon immer das Richtige tun? Er arbeitet als Erzieher in einem Kindergarten, er liegt in einem Trierer Brennpunktviertel mit vielen Migranten, vielen Arbeitslosen. Und genau zwischen denen konzentriert sich jetzt dieser Kulturkampf, den einige Leute ausgerufen haben, die das Arbeitsamt lediglich von Presseterminen kennen. „Ich habe schon Angst um die Stimmung, weil die sozial Schwachen die Nummer austragen müssen“, sagt Kanty. Deshalb sieht er auch eine Chance im Marx-Jahr, um deutlich zu machen, dass Hass immer mit Neid beginnt. Es ärgert ihn darum am meisten, wie Marx jetzt kommerzialisiert wird. Bei der Tourist-Information der Stadt Trier bekommt man beispielsweise einen Marx-Schlüsselanhänger für 3,95 Euro, einen Aufkleber mit seinem Konterfei, natürlich rot unterlegt, gibt es schon für 1,50 Euro. „Es gibt auch Marx-Ampelmännchen in der Stadt. Es ist einfach schade, dass sich aber nur wenige mit seinen Gedanken beschäftigen wollen. Aber wir müssen jetzt endlich Bewusstsein schaffen und uns zusammenschließen, um die Dinge zu verändern“, sagt Kanty.

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