Rheinpfalz Mortadella 1, Deutschland 0

Die Fußball-Europameisterschaft kann einem die so selten gewordenen Momente der Stille und der Besinnung schenken. Wenn man einfach da hingeht, wo kein Fußball ist. In den Supermarkt beispielsweise. Oder an den Hauptbahnhof. Oder vor eine Wand, auf der die Farbe trocknet. Von Daniel Krauser

Normalerweise läuft das hier so, an der Ludwigshafener Wursttheke meiner Wahl: Die Fleischfachverkäuferin des Vertrauens nimmt jede einzelne Scheibe Aufschnitt bedächtig wägend auf die Gabel. Schaut sie dabei wohlwollend, aber kritisch an – wie eine Mutter, die ihr geliebtes Kind mustert, voller Stolz, aber auch besorgt, ob es den Ansprüchen der Welt genügen möge. Streichelt dann jede einzelne Scheibe sorgsam und wie widerwillig ins Wurstpapier, als wäre sie vom Trennungsschmerz übermannt. Und ignoriert dabei souverän, dass ein gutes Dutzend Kunden in der Warteschlange kurz davor ist, sie zu frikassieren. Man muss bei aller Faszination für den Umgang der Wurstverkäuferin meines Vertrauens mit Salchichon und Gelbwurst festhalten: Es dauert normalerweise elend lange, an der Wursttheke meiner Wahl. Nicht so heute: Keiner da außer mir und der Wurstverkäuferin, und die wirkt heute ein wenig geistesabwesend, ja fahrig: Unkonzentriertes Aufgabeln scheinbar beliebiger Wurstscheiben, liebloses Verräumen in die Verpackung. Zwischen zwei Scheiben bricht dann der Grund für die mangelnde Fokussierung aus der jungen Frau heraus: „Wissen Sie, wie’s steht?“, fragt die Wurstverkäuferin, „mein Radio ist kaputt.“ „Momentan drei zu eins für den Mortadella“, antworte ich, „aber ich würde mich freuen, wenn die Schinkenwurst aufholen würde.“ Die junge Frau lacht und nimmt eine Scheibe Schinkenwurst auf die Gabel. Prüfend, wägend, den Rest des Sermons siehe oben. Um von der guten Wurst zum eigentlichen Thema dieses Aufsatzes zu kommen: Ich bin kein Fußballfan. Und weil ich kein Fußballfan bin, mache ich meinen wöchentlichen Großeinkauf an diesem Dienstagabend, während die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen Nordirland spielt. Dass sie das tut, habe ich überhaupt erst im Büro erfahren – weil sämtliche Kollegen mit der Frage beschäftigt waren, wie sie sich abends schnell genug abseilen könnten, um an ihre heimischen Fernsehgeräte zu kommen. Ich gehe immer bei Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft einkaufen. Stressfreier geht man selten shoppen. Ich wäre auch beim WM-Endspiel vor zwei Jahren einkaufen gegangen – aber das fiel auf einen Sonntag. Verstehen Sie mich bitte recht: Ich bin kein militanter Fußballhasser. Fußball ist für mich wie Fasnacht: Interessiert mich auch nicht, aber wer seinen Spaß daran hat, soll ihn haben. Ich verstehe auch durchaus die gesellschaftliche Relevanz des Spiels: Gemeinschaftserlebnis. Eine der in Deutschland ganz seltenen Gelegenheiten, Nationalstolz zu zeigen, ohne Verdacht zu erregen. Letzte gemeinsame Kommunikationsplattform für eine Gesellschaft, in der die verschiedenen Milieus immer weniger Gemeinsamkeiten haben. Regelmäßig wiederkehrende emotionale Höhepunkte in Leben, die, wie bei den meisten von uns, dann doch recht ereignislos dahinplätschern. Das war’s dann aber wohl auch – und wer in das Gekicke wesentlich mehr an Bedeutung reinlesen will, der muss sich dann schon arg das Hirn verrenken. Ich bin trotzdem kein Fußballhasser. Ich bin bereit zu tolerieren, dass der ältere Kollege, der immer über Fußball spricht und dabei keine erkennbare Ahnung von Fußball hat, jetzt schon wieder vor meinem Schreibtisch steht und mit 123 Dezibel über Fußball spricht. Es macht mir nichts aus, dass die junge Sekretärin eine Schnute zieht, weil sie sich gemeinsam mit dem älteren Kollegen an einem Tippspiel beteiligt – und weit abgeschlagen hinten liegt, weil beide keine Ahnung vom Fußball haben. Der hier am wenigsten über Fußball spricht, ist übrigens der Sportkollege, der mir gegenüber sitzt – wahrscheinlich, weil er Ahnung von Fußball hat. Ich habe keine Probleme mit Fußball. Ich finde ihn einfach nur stinklangweilig. Und ziehe im Zweifel die Wand mit trocknender Farbe vor. Dass ich damit im allgemeinen und momentan im Supermarkt ziemlich alleine bin, macht mir nichts aus. Es mag wie eine ziemlich gewagte These erscheinen, aber: Fußball vermag uns, gerade bei Großereignissen, einige jener so selten gewordenen Momente der Stille zu schenken. Wenn man einfach da hingeht, wo momentan kein Fußball ist. Im Supermarkt verlieren sich kurz nach 18 Uhr jedenfalls etwa fünf Paare, vier davon mutmaßlich mit Migrationshintergrund, an einem Kinderwagen baumelt eine türkische Flagge schlaff vom Gestänge. Könnte jetzt symbolisch sein und für das Spiel der Türken bei der EM stehen, woher soll ich das wissen. In der Getränkeabteilung steht ein einsamer Herr wie traumverloren vor der Batterie mit den Wodkaflaschen. Bei näherem Hinsehen: Der Typ ist nicht traumverloren, sondern stockbesoffen und wahrscheinlich einfach deshalb nicht vor seinem Fernseher, weil er seine Wohnung nicht mehr findet. Keine Schlangen an den Kassen. „Kään Fußball?“, fragt die Kassiererin. „Isch aa net. Mein Mann guckt. Bin froh, wenn ich en net seh’.“ Offen bleibt, ob der Mann oder der Fußball gemeint ist. Wenn man während eines Fußballspiels in seinem Garten sitzt, dann erlebt man seinen Garten vielleicht zum ersten Mal in vollkommener Ruhe. In der fußballlosen Zeit gibt’s ja dann doch immer jemanden, der um 18.30 Uhr nochmal Bodenfräse, Kettensäge oder Rasentraktor anwirft oder in seinem Vorgarten mittels Explosivladungen nach Amethysten schürft – und wenn’s nicht die anderen sind, dann ist man’s selbst. Es läuft immer noch die erste Halbzeit des Nordirlandspiels und über den Wipfeln spürest du kaum einen Hauch: Es ist so still, dass man die Schaufelgeräusche der Maulwürfe auf dem Rasenstück links hinten zu hören vermeint, Korrektur, es ist die nahe A 650. Selten ist man mehr bei sich selbst, mehr eins mit der Schöpfung, als wenn man keinen Fußball guckt. Gerade hat Deutschland wohl ein Tor geschossen, ein anscheinend älterer Herr auf Nord/Nordwest schreit als erster „Tor!“, ein wenig kurzatmig. Es ist dies ein Torschrei, in dem wenig Begeisterung mitschwingt, da schreit jemand „Tor!“, weil es eben gesellschaftliche Konvention ist, „Tor!“ zu schreien, wenn ein Tor gefallen ist. Da es auch gesellschaftliche Konvention ist, nicht „Tor!“ zu schreien, wenn kein Tor gefallen ist, wird man den Rest des Abends dann allerdings in Ruhe verbringen können. Ich bin kein Fußballhasser, aber das finde ich dann doch ein wenig enervierend: Dass momentan jeder meint, über Fußball reden oder schreien zu müssen – auch, wenn er erkennbar mit Fußball überhaupt nichts am Hut hat. Oder darüber schreibt, teilweise ziemlich unglücklich, ja wie unter Zwang: Man liest seit Wochen Artikel, die so ziemlich alles zwischen Weltkrieg, Gottproblem und Chaostheorie irgendwie mit Fußball in Verbindung bringen. Liest Stücke zur Dekonstruktion der Bananenflanke oder zur Frage, ob die Raute inzwischen nicht ein Parallelogramm ist und ob’s da überhaupt einen Unterschied gibt. Erfährt, was die Abnahme des Vollspannschusses und die Zunahme der Außenristmitnahme mit der Krise des deutschen Mannes zu tun hat. Ob Gender Mainstreaming zu mehr Klein-Klein auf dem Rasen führen wird und was das alles fürs Packing heißt. Der vorliegende Artikel ist übrigens ein gutes Beispiel für jenen unseligen Trend: Eigentlich sollte an dieser Stelle ein aufwändig recherchierter Text zum bizarren Balzverhalten des nordpfälzischen Schwarzspechts stehen. War nicht zu machen: Der Autor konnte sich bei dem ganzen Gesabbel auf nichts anderes als Fußball konzentrieren. Zweite Halbzeit Nordirlandspiel, dünnflüssiger Verkehr auf der Frankenthaler Straße Richtung Oggersheim. Sieben Badegäste am Baggersee, an dem sich die Menschen ansonsten dicht an dicht drängen. Zirruswolken vor leicht verhangenem Himmel, absolute Stille, in der der Biss in die selbstgeschmierte Wurstsemmel fast wie Lärm wirkt. Mortadella 1, Deutschland 0. Heute Abend ist wieder Länderspiel. Auf geht’s zum Tai Chi am Mannheimer Hauptbahnhof. Stille genießen.

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