Rheinpfalz Lieber Student als Arzt

HEIDELBERG

. Dunkle Hornbrille, helle Sneakers, T-Shirt, Jeans und Rucksack – eigentlich unterscheidet Jürgen Dollmann kaum etwas von seinen Studienkollegen. „Ich bin jetzt in meinem 17. Studiensemester, ein typischer Bummelstudent“, sagt er, bummelt aber nicht. Dollmann lacht und hastet auf der Heidelberger Hauptstraße zielstrebig der Neuen Universität entgegen. Die meisten Kommilitonen sitzen in den Cafés, die er links und rechts liegen lässt. Von den 17 Semestern studierte er 14 Medizin. Von 1971 bis 1977. Einige Jahre später eröffnete der Internist in Heilbronn eine Arztpraxis. Jetzt ist er 62. Vor drei Semestern Religionswissenschaft (Hauptfach) und Europäischer Kunstgeschichte (Nebenfach) verkaufte er seinen Praxisanteil, sein Haus und sein Grundstück und fing noch einmal neu an. „Vom Arzt zum Studenten, für mich ist das kein Bruch. Ich habe Medizin studiert, weil mich der Mensch interessiert. Ich war neugierig und hatte Spaß. Aber schon während des Studiums habe ich gemerkt, dass mir das zu eng wird“, sagt er und umklammert seine Rucksackträger. Nach dem Physikum wusste Dollmann alles über Anatomie, Physiologie und Biochemie. „Aber was einen Menschen ausmacht, wie er tickt oder denkt – das wusste ich immer weniger.“ Während seines ersten Studiums interessierte sich Dollmann etwa für Walter Jens und Thomas Mann, aber auch immer wieder für die Musik. Bis heute tritt der Pianist regelmäßig auf. „Die Medizin ist eine Schublade. Ich hatte das Gefühl: Je mehr ich da hineinkrieche, desto weniger verstehe ich die Zusammenhänge“, sagt Dollmann. Arzt sei ein toller Beruf, aber in den letzten Jahren seien im Gesundheitswesen Dinge passiert, die ihn nicht mehr so arbeiten ließen, wie er ursprünglich angetreten war: „Der Patient wird zum Kunden, der Arzt zum Leistungserbringer.“ Ende März 2013 setzte er einen Schlusspunkt. Schon im April saß Dollmann in den Hörsälen. „Ich war sofort in einer anderen Welt, was gut war.“ Dennoch: Der Schritt war wohlüberlegt: „Wir hatten neben der Gemeinschaftspraxis ein großes Haus und ein großes Grundstück in Bad Wimpfen. Irgendwann wurde mir klar, dass ich nach dem Verkauf die Freiheit zum Studieren hätte.“ Mit seiner Frau, die als Sonderschullehrerin arbeitet, ist er in eine Wohnung gezogen, lebt während des Semesters aber auch in seiner Heidelberger „Studentenbude“. Nachdem die Kinder erwachsen waren, sei das alte Haus ohnehin zu groß gewesen. War da beim Umzug keine Wehmut oder Trauer? „Auf keinen Fall Trauer. Die Spannung vor dem, was kommt, war sehr viel größer. Ich hätte sonst nicht mit 61 aufgehört zu arbeiten.“ Niemals könne er sich vorstellen, zu Hause zu sitzen und „Rentner zu spielen“. Trotz seines Alters sieht sich Dollmann keinesfalls als Außenseiter. Der Doktortitel hat keine Bedeutung, man duzt sich. Auch am Studentenleben nimmt er bedingt teil. „Abends um die Häuser ziehen, das muss ich nicht mehr. Damit bin ich durch“, meint er. Aber zu Fachschaftsfesten auf der Neckarwiese etwa gehe er sehr gerne. Für Religionen hat sich Dollmann in den vergangenen Jahren immer mehr interessiert. Dass es den Studiengang Religionswissenschaft gebe, habe er anfangs gar nicht gewusst. Umso glücklicher wirkt er jetzt: „Es ist ein kleines, überschaubares und sympathisches Institut. Nach drei Semestern kennt man quasi jeden Dozenten – und umgekehrt. Im Hörsaal wird man mit Namen angesprochen. Im Medizinstudium war man eine laufende Matrikelnummer“, sagt er und zeigt auf den Eingang vor der Neuen Uni. Unter der Skulptur der griechischen Göttin der Weisheit, Pallas Athene, steht „Dem lebendigen Geist“. Dollmann strahlt: „Ich bin dankbar, dass ich heute noch diese Neugier und diesen Wissensdurst verspüre. Ein lebendiger Geist ist nicht unbedingt selbstverständlich.“ Dollmann studiert auf Bachelor. Gasthörer wäre nichts für ihn gewesen. „Ich habe im Vollzeitstudium neben Wahlveranstaltungen auch Pflichtvorlesungen und Seminare. Bei manchen überlegt man anfangs, ob einen die Themen überhaupt interessieren. Und plötzlich öffnet sich ein Fenster und man hat eine ganz andere, neue Denke.“ Er sehe nach den drei Semestern so vieles vielschichtiger und aus anderen Blickwinkeln. Eins sei jedoch gleichgeblieben: „Ich versuche zu verstehen. Verstehen, was da passiert, wenn Menschen miteinander reden.“ Er lächelt und geht in Richtung Hörsaal. Seine Schritte sind schnell. „Ich habe keine Zeit zu verlieren. Mir bleibt davon nicht mehr so viel wie den anderen Studenten.“

x