Rheinpfalz Grenzen: Bis hierher und dann weiter

Nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs dachten viele, Grenzen würden bald ganz verschwinden. Welch ein Irrtum. Heute gibt es mehr davon als zuvor. Und es wird sie wohl noch sehr lange geben. Von Kerstin Witte-Petit

Wer das Wort Grenzen googelt, stößt auf deren Negierung. Ärzte ohne Grenzen, Manager ohne Grenzen, Moor ohne Grenzen, Katzenhilfe ohne Grenzen, ja sogar Clowns ohne Grenzen spuckt das Internet aus. Grenzen, scheint es, haben eine schlechte Presse. Das Wort klingt nach Abschottung, Stacheldraht und irgendwie nach gestern. Was bleibt von Grenzen noch übrig, wenn sie weder die Geldströme der Hochfinanz noch Facebook, Google und das Darknet aufhalten können?, fragen die Kritiker. Was konnten Stopp-Linien und Passkontrollen 1986 gegen die radioaktive Wolke von Tschernobyl ausrichten? Zika und die Tigermücke lassen sich von Zöllnern nicht beeindrucken. Und was schert es Amazon, Apple oder Coca-Cola, um welche Schlagbäume herum sich ihre weltumspannende Verbrauchergemeinde gruppiert? Globalisierung sei der Konkurs der Geographie, ließ sich schon im Jahr 1997 ein Mitarbeiter der Weltbank zitieren. Als die Mauer, die Deutschland teilte, unter dem Ping-ping Tausender Hämmerchen zerbröselte, als der Eiserne Vorhang zwischen zwei mächtigen Blöcken in rostige Teilchen zerfiel, glaubten viele, nun komme auch das Ende der Staaten und damit der Grenzen. Sie hielten Staaten für schlicht nicht mehr fähig, mit den Problemen von heute fertigzuwerden, und träumten von einer Weltgesellschaft, vom „postnationalen Raum“ (so der Europasoziologe Georg Vobruba noch 2012), von „global governance“ und „global neighbourhood“. Eine Tages, so glaubten viele, würden auf der Erde keine Staaten mehr die Dinge regeln, sondern regionale Gebilde wie EU, Nafta oder Asean im Zusammenspiel, große Nichtregierungsorganisationen und internationale Gerichtshöfe. Doch so kam es nicht. Allein im Zeitraum von 1991 bis 2010 sind rund 27.000 Kilometer neue Grenzen gezogen worden. Und die sind nicht nur aus Blumen gewunden. Auf dem Balkan, im Kaukasus, im Südchinesischen Meer lauert hinter jedem Grenzkilometer die internationale Krise. Offene Streitigkeiten um Territorien in der Welt sind zuletzt 2004 vom Politologen Peter Calvert akribisch aufgelistet worden – die Liste ist beeindruckend lang und kann teilweise in Wikipedia nachgelesen werden. Zu den lange schwelenden und leicht entzündlichen Konflikten gehören die zwischen Türkei, Irak und Iran um das Kurdenterritorium, zwischen Russland und der Ukraine um die Krim, zwischen China, Japan und Taiwan um die Senkaku-Inseln, zwischen Japan und Russland um die Kurilen, zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir und zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Unterschiedlicher Auffassung sind die Staaten dieser Welt auch noch immer über die palästinensischen Autonomiegebiete, Nordzypern, das Kosovo, Somaliland, Transnistrien und die Westsahara. Dabei sind Grenzen immer zwiespältig: Zwischen Bereichen, die sich in Wohlstandsniveau wie in den Grundüberzeugungen ähneln, kommen sie freundlich daher und bringen Grenzbewohnern sogar Wohlstand – wie derzeit den Elsässern, die von deutschen Firmenansiedlungen in ihrem Land und der Möglichkeit des Pendelns nach Deutschland profitieren. Bei Wohlstands- oder Machtgefälle aber sieht die Sache ganz anders aus. Grenzanlagen künden in besonderer Weise davon, wie Macht sich selbst versteht und wovor sie sich am meisten fürchtet. Sie können in Beton gebaute Gradmesser der Angst sein. Der angebliche „antifaschistische Schutzwall“ der DDR, der seine Sperranlagen nach innen richtete, weil die Werktätigen scharenweise aus ihrem Paradies davonliefen. Die Hassgrenze zwischen Nord- und Südkorea, an der man einander mit dem Feldstecher beobachtet und wo der Süden die Raketentests des Nordens mit Propagandagebrüll aus riesigen Lautsprecherbatterien beantwortet – als könnten beide Staaten weder Augen noch Ohren voneinander wenden. Die hohen Reichtumszäune, mit denen die USA sich vor den Mexikanern schützen will und Spanien in Ceuta und Melilla vor den Nordafrikanern. Der Zaun, der auf seiner einen Seite das Sicherheitsgefühl der Israelis stärkt und auf seiner anderen die Wut der Palästinenser. Der elektrische „Veterinärzaun“ des afrikanischen Staats Botswana an der Grenze zu Simbabwe, der offiziell Nutztiere vor Krankheiten schützt, unausgesprochen aber auch die armen Nachbarn abhält. Alles nicht neu übrigens. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatten die deutschen Fürstentümer offenbar vor nichts so viel Angst wie vor den vielen umherwandernden entwurzelten Menschen, die sich mit Diebstählen über Wasser hielten und auch sonst nicht so leicht zu disziplinieren waren wie ansässige Untertanen. Die „Einkömelinge“ sollten draußen bleiben, im „Ellend“ (der Fremde). Die Kurpfalz stellt im Jahr 1709 und Braunschweig-Lüneburg 1710 „an den Grentzen“ Zigeuner-Pfähle auf, die einen am Galgen hängenden oder einen an die Karre geschlossenen Menschen zeigen. In großen Lettern schreiben sie an diese Pfähle, dass „Zigeuner (...) diese Lande bei Leib und Lebens Straffe meiden“ sollen. Später ist jeder „auswärtige Bettler“ und „liederlich Gesindel“ gemeint. Das „Fortschaffen“ gilt damals schon als Lösung gegen Armutswanderer. Da sich nicht alle durch die Grenze abschrecken lassen, brennt man später in einigen Fürstentümern den Fremden Galgen in die Haut – so macht man es Illegalen schwerer, im Land unentdeckt zu bleiben. Dabei dienen Grenzen mitunter als Ausrede für nicht gemachte Hausaufgaben. Deutschland zum Beispiel hat es bis heute nicht geschafft, Migranten aus den verschiedenen Teilen der Welt schnell und effizient nach ihren Beweggründen und ihren Bleibe- oder Arbeitschancen zu unterscheiden. Es hat vielmehr den Weg ins Land für ausschlaggebend erklärt, umgab sich mit einem Ring aus „sicheren Drittstaaten“ und drängte in den 1990ern massiv auf das europäische Dublin-System, das den EU-Außenstaaten den größten Ärger zuschob. Grenzen braucht man, damit Zugang nach Regeln verläuft. Doch klare, differenzierte und von allen geachtete Regeln und eine gut funktionierende Bürokratie im EU-Innern würden die EU-Außengrenzen entlasten. Nur ringen sich die Mitgliedstaaten dazu noch immer nicht durch. Mauern schotten ab. Sie halten aber Konflikte aufrecht, statt sie zu lösen. Der Historiker Wilfried von Bredow erinnert an den hohen Preis, den Gesellschaften für ihre Mauern zahlen. Wo Stacheldraht liegt, fährt kein LKW mehr just-in-time durch; wo alles kontrolliert wird, kommen weder Ideen noch Technologien durch den Gedankenzoll.

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