Rheinpfalz Ein zehnstimmiges Musikstück in gerade mal 30 Minuten

Stuhlkreis statt Reih und Glied in der Kirche? Ein eher seltener Anblick, aber für das, was Gunnar Eriksson mit „seinen“ gut 30 Sängerinnen und Sängern beim Classic Camp auf Burg Lichtenberg vorhat, ist es wohl die geeignetste Form, um musikalisch zu arbeiten.

Ebenso ungewohnt ist das völlige Fehlen von Noten und sonstigem Papier gestern Vormittag. Eine einzige Teilnehmerin des Workshops kritzelt gelegentlich in ein Notizbuch auf ihrem Schoß. Ansonsten herrscht gespannte Aufmerksamkeit und vor allem Blickkontakt zum aus Schweden angereisten Arrangeur und Chorleiter Gunnar Eriksson, der die meiste Zeit vom Keyboard aus das Geschehen leitet, allerdings so gut wie nie dirigiert. Seine Sache sind die kleinen Gesten, die meist geflüsterten, auf Englisch hervorgebrachten Anweisungen. Er wird tatkräftig, aber ebenso bescheiden aus dem Hintergrund agierend unterstützt von seinem Sohn Mats an der Gitarre mit wohlgesetzten Harmonien und dezenten Grooves. Ansonsten ist das einzige visuelle Hilfsmittel ein Flipchart mit dem schwedischen Text des Kanons, der hier gleichsam aus dem Nichts entstehen wird. Zunächst wird der Text gesprochen, besser gesagt im Rhythmus skandiert. Von allen zusammen, ehe ganz allmählich Töne und Harmonien vom Keyboard dazukommen und die Sängerschar dazu übergeht, das Gehörte nachzusingen. Eriksson scheint körperlich abwesend, schaut ins Leere, ist aber offensichtlich „ganz Ohr“, denn unvermittelt korrigiert er Intonation, Tonhöhe und Rhythmus, wo etwas nicht ganz so herüberkommt, wie er es sich vor dem inneren Ohr vorstellt. Fünf verschiedene Motive und Sequenzen schälen sich heraus, die allesamt miteinander verwandt sind, teils nacheinander erklingen, aber auch eng miteinander vernetzt auftauchen und verschwinden. Alles auf den kleinsten Fingerzeig, manchmal aber auch nur durch direkten Augenkontakt verursacht. Über einem ostinaten Bass entsteht so ein Stimmengewirr, das trotz erkennbarer Harmonik dem Summen eines Bienenschwarms nachempfunden scheint, an- und abschwillt. Changierende Klangfarbenspiele entstehen durch unterschiedliche Zuordnung der musikalischen Elemente zu den einzelnen Singgruppen, durch allmählich einsetzendes Klatschen. Die ersten Teilnehmer erheben sich von ihren Plätzen und wandeln gleichsam in Trance durchs Rund, setzen sich wieder an andere als die angestammten Plätze und sorgen so auch für ein räumliches Durchmischen der Szenerie. Plötzlich verlässt Eriksson seinen Platz am Keyboard und stimmt ein völlig neues Motiv an, das aus dem bereits Gehörten abgespalten ist und ebenfalls in fünf Partien variiert angestimmt wird. Nachdem es sitzt – gut, das dauert ein wenig, weil der Samba-Rhythmus aber auch gar zu vertrakt ist –, baut sich das musikalische Gebilde zur Zehnstimmigkeit auf und füllt den Raum bis in den letzten Winkel. All das in gerade einmal 30 Minuten! Einfach eindrucksvoll und eine gelungene Bestätigung der Maxime des früheren Musikantenlandpreisträgers Roland Vanecek, der nebenan mit seinem Nachfolger Leonhard Paul und einem Bläserensemble arbeitet, wonach zuerst der Ton und dann die Note existierte. Was eindrucksvoll bewiesen wurde und morgen ab 20 Uhr beim Abschlusskonzert auf der Unterburg auch von der Öffentlichkeit erlebt werden kann.

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