Rheinpfalz Drohungen auf der Straße, Absurdes im Kino

dose180.jpg

Wer nach Cannes fährt, ist selber schuld, dass er schlimmer überwacht wird als von CIA und BND. 468 Videokameras hängen in der Innenstadt, mit der sich lückenlos wohl jede Bewegung jedes Festivalbesuchers über 24 Stunden rekonstruieren lässt. Das ist deshalb wichtig, weil große Plakate drohen, dass jeder 180 Euro Strafe zahlen muss, wenn er erwischt wird, eine leere Getränkedose auf die Straße zu werfen oder eine Zigarettenkippe oder einfach in eine Ecke zu pinkeln.

„Aktion gegen unzivilisiertes Verhalten“ heißt das Programm, das die Verwaltung im März auflegte, um die Stadt sauberer und gewaltfreier zu machen. Die Höhe der Strafe dürfte wohl einmalig sein in Frankreich. Bisher habe ich zwar durchaus Kippen und leere Dose auf der Straße gesehen, bevorzugt neben überfüllten Mülleimer, aber noch keinen, der erwischt wurde und von der Polizei mitgenommen wurde. Ebenso wenig wie die US-Botschafterin verhaftet wurde, als sie auf der roten Treppe ein Selfie schoss, was der Festivaldirektor doch so lautstark verboten hat, dass es jeder mitbekommen hat. Zumindest die Stars haben sich alle dran gehalten, und die US-Botschafterin wollte sicher testen, ob die Amerikaner in Frankreich wirklich alles tun können, was sie wollen. Im Kino jedenfalls können sie das nicht das nicht, wie „The Lobster“, der absurde Wettbewerbsfilm des Griechen Yorgos Lanthimos, jedem klarmacht. Alle Bewohner einer Stadt (wahrscheinlich Cannes), die allein leben, müssen in ein Hotel kommen und innerhalb von 45 Tagen unter den Hotelbewohnern einen Partner finden, mit dem sie ein Paar bilden. Masturbieren sie heimlich, was verboten ist, wird die Masturbierhand in den Toaster gesteckt und verbrannt (zu sehen an John C. Reilly). Denn für die Männer gibt es ein Zimmermädchen, das sich angezogen auf die Männer setzt und ihre Lust anstachelt. Das muss reichen. Finden die Hotelgäste keinen Partner, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und in den Wald geschickt, wo sie gejagt werden. Oder auch nicht. David (Colin Farrell, mit Schnauzer und biederer Frisur nicht wiederzuerkennen und ganz zurückgenommen spielend) kommt als einziger mit Hund ins Hotel. Der Hund ist sein Bruder. Der Hund wird nicht überleben, weil die Frau, mit der David kurz vor Toresschluss sich einlässt, ihn erschießt – genauso scheinbar grundlos wie im Vorspann eine andere Frau aus einem Auto steigt und einen Esel auf der Wiese erschießt. Das Leben ist absurd genug und unsere Regeln machen es noch abstruser, will Lanthimus mit seiner Satire wohl sagen, die in ihren besten Szenen an die Filme von Luis Buñuel (1900-1983) anknüpfen. Die Suchzeit von 45 Tagen lässt sich verlängern, indem man bei der täglichen Jagd im Wald Rebellen erschießt. Ein erschossener Rebell gibt einen Tag mehr. Da alle Einheitskleidung tragen und das Hotelleben wenig Platz zur Persönlichkeitsentfaltung bietet, finden sich die Paare eigentlich durch äußerliche Gemeinsamkeiten: Beide bluten aus der Nase oder beide sind kurzsichtig. Das muss reichen. Doch zum Glück gibt es noch die Gegenwelt der Rebellen, die aus dem Hotel fliehen, bevor ihre Tage abgelaufen sind und sie verwandelt werden. Doch im Wald herrscht ein ähnlich strenges Regiment, denn die Rebellenführerin (Léa Seydoux) verbietet en alle romantischen Anwandlungen. Natürlich verliebt sich der frische Rebell David in eine Mitrebellin und umgekehrt, was zu Sanktionen führt, die ähnlich grausam sind. Im Film kommt alles so bitterernst daher, dass einem das anfängliche Lachen schnell im Hals stecken bleibt – wie bei den 180-Euro-Drohungen in der Stadt.

x