Rheinpfalz Die Belgien-Connection

91-81619267_01.jpg

Belgien, immer wieder Belgien. Das kleine Land, das pro Einwohner weitaus die höchste Zahl an Syrien-Ausreisenden in Europa verzeichnet, also an Islamisten, die dorthin in den Krieg ziehen (auch wenn es in absoluten Zahlen nur rund 450 sind).

Belgien, die Drehscheibe mitten im Schengen-Raum – ein Steinwurf nach Lille in Frankreich und Rotterdam in den Niederlanden, ein Katzensprung zum Düsseldorfer Flughafen mit seinen Billigfliegern in Richtung Türkei. Belgien, Europa-Einfallstor illegaler Waffen, gesteuert von albanischen und tschetschenischen Mafiabanden in Lüttich und Verviers. Belgien, das Land, in dem die Pariser Anschläge vom 13. November mit 130 Toten vorbereitet wurden. Belgien, das in dieser Woche selbst von mörderischen Anschlägen erschüttert wurde, mit mehr als 30 Toten und 300 Verletzten. Belgien zeigt, dass Dschihadisten keine europäische Kleinstaaterei kennen. Die Wiege des belgischen Dschihadismus, der Verein „Sharia4Belgium“ (Scharia für Belgien), kommt aus England, importiert von dem Briten Anjem Choudary, der die „Islam4UK“-Bewegung (Islam für das Vereinigte Königreich) führte und in vielen Ländern bei der Gründung radikaler Islamistengruppen half – auch bei der deutschen „Millatu Ibrahim“. Islamistische Netzwerke sind europäisch, und zumindest innerhalb desselben Sprachraums kennen sie keine Grenzen. Das liegt schon daran, dass die Terrororganisation IS die in Syrien ankommenden europäischen Kämpfer, die meist kein Arabisch können, in Sprachgruppen zusammenfasst und trainiert: Belgier zu Franzosen, Österreicher zu Deutschen. Aus Frankreich kommen innerhalb der EU die meisten Syrien-Ausreisenden: 1200 Kämpfer. Das belgisch-französische Dschihadisten-Potenzial ist groß und das Netzwerk eng geknüpft. Fünf der Terroristen des 13. November in Paris sind in Belgien aufgewachsen: Bilal Hadfi sprengte sich vor dem Stade de France in die Luft, Brahim Abdeslam vor einem Pariser Café. Sein Bruder Salah Abdeslam, der die Stadion-Attentäter zu ihrem Ziel fuhr, selbst aber seinen Sprengstoffgürtel nicht zündete, floh nach Brüssel. Abdelhamid Abaaoud und Chakib Akrouh, die beide am Anschlag auf die Cafés beteiligt waren, versteckten sich im Pariser Vorort Saint-Denis, wo sie fünf Tage später bei einer Schießerei mit der Polizei starben. Die Anschläge von Brüssel werden durch zwei Namen direkt mit denen von Paris verbunden: den Metro-Selbstmordattentäter Khalid El Bakraoui und den Flughafen-Attentäter Najim Laachraoui. Klar ist: Eine Anschlagsserie an mehreren Stellen einer Stadt erfordert minutiöse Vorbereitung und einen fortgeschrittenen Organisationsgrad. Der „führerlose Dschihad“, von dem man beim IS häufig gesprochen hat, kann ganz so führerlos nicht sein. Der IS versucht, gegen die westlichen Gesellschaften die ganze Bandbreite des Terrors zu nutzen. Im Internet hetzt er einzelne Radikalisierte dazu auf, „Ungläubige“ zu töten, wo immer es geht, und sei es mit dem Messer. Gleichzeitig aber bildet er in Syrien europäische Kämpfer militärisch, logistisch und sprengstofftechnisch so gut aus, dass sie in der Lage sind, komplexe Operationen wie in Paris oder Brüssel vorzubereiten. Und sollten sich die Hinweise bewahrheiten, dass belgische Dschihadisten einen hochrangigen Atomforscher dazu erpressen wollten, radioaktives Material für eine schmutzige Bombe zu liefern, dann ginge es um einen nochmals höheren Schwierigkeitsgrad. Das französisch-belgische Netzwerk jedenfalls kennt Führer und Fußvolk. Es gibt Chefplaner wie Abdelhamid Abaaoud, Sprengstoffmeister wie Najim Laachroui, Koordinatoren, Logistiker, Attentäter und Unterstützer. Und es gibt einen Guru, der irgendwie alle kennt: Khalid Zerkani, der IS-Anwerber von Molenbeek. Abdelhamid Abaaoud, das Terror-Hirn von Paris, dürfte durch seine Syrien-Aufenthalte auch einen guten persönlichen Kontakt zu Hintermännern in Syrien gehabt haben. Ob Attentate in Europa von Syrien aus kommandiert werden, weiß man nicht. Dass dort einflussreiche „Emire“ größere Einsätze zumindest mitverfolgen, ist aber anzunehmen. Es gibt mehrere aus Europa stammende IS-Emire in Syrien. Laut dem Pentagon könnte der französische Emir Charaffe al-Muadan an den Paris-Plänen mitgewirkt haben – er wurde im Dezember bei Luftangriffen getötet. Von Syrien aus zusammengestellt sind europäische Terrorgruppen aber ganz offensichtlich auch nicht. Denn gerade bei der Belgien-Connection sieht man, wie sehr sie auf Familienstrukturen und Jugendfreundschaften beruhen. Da sind die Abdeslam-Brüder und Abaaoud, alte Jugendfreunde. Dann all die Molenbeek-Kumpels rund um die Kneipe der Abdeslams: Ahmed Dahmani, derzeit in Haft, der Attentatsziele in Paris ausgespäht haben soll; Gelel Attar, in Haft, Freund des Paris-Attentäters Chakib Akrouh; Lazez Abraimi, in Haft, der möglicherweise ein Pariser Attentats-Auto entsorgen sollte; Hamuza Hattou und Mohamed Amri, in Haft, die Salah Abdeslam bei der Flucht halfen; Abid Aberkan, der Salah drei Tage lang in der Wohnung seiner Mutter in Molenbeek versteckte. Wahrscheinlich ist nur so zu erklären, dass Salah Abdeslam, der meistgesuchte Mann Europas, sich vier Monate lang direkt vor der Nase seiner Fahnder verstecken konnte.


Der Planer und der Anwerber

Abdelhamid Abaaoud (28) †

Der Belgier, der auch die marokkanische Staatsbürgerschaft besitzt, wuchs im Brüsseler Viertel Molenbeek auf. Er kannte die Brüder Abdeslam schon aus Jugendtagen. Vom Kleindealer und Dieb wurde er zum Räuber, kam mehrmals ins Gefängnis. Dann radikalisierte er sich. Mindestens zweimal kämpfte er in Syrien und wurde durch ein Video, in dem er lächelnd Leichen hinter seinem Pickup herschleifte, zur Kultfigur belgischer Dschihadisten. Fünf Tage nach den Attentaten von Paris wurde er bei einem Polizeieinsatz in Saint-Denis getötet. Nach allem, was die Ermittler wissen, hat Abaaoud die Anschläge des 13. November in Paris maßgeblich geplant. Er soll auch der Chefplaner einer im Januar im belgischen Verviers ausgehobenen Terrorzelle gewesen sein, die ein Attentat gegen einen Flughafen vorbereitete; er selbst konnte damals nach Syrien fliehen. Mit dem belgischen Attentäter des Jüdischen Museums in Brüssel (2014, vier Tote), Mehdi Nemmouche, war Abaaoud aus gemeinsamen Syrien-Tagen befreundet und stand mit ihm in Telefonkontakt. Hinweise auf Abaaoud gibt es auch beim im April vereitelten Anschlag auf eine Kirche in Villejuif bei Paris und beim Überfall im Schnellzug Thalys im August. Ein französischer Syrien-Rückkehrer behauptet sogar, Abaaoud habe ihn mit Geld und genauen Weisungen nach Frankreich geschickt, um „bei einem Rockkonzert ein Maximum an Todesopfern zu machen“.

Khalid Zerkani (42)

Manche nennen ihn den Guru von Molenbeek, er selbst nannte sich „Papa Noël“, Weihnachtsmann. Der Marokkaner war in den Jahren 2012 bis 2014 in dem berüchtigten Brüsseler Stadtteil IS-Anwerber und Chef eines Schleuser-Netzwerks, das radikalisierte junge Belgier nach Syrien brachte. Er wird als jemand beschrieben, der gezielt junge Kleinkriminelle anwarb. Reisten sie nicht aus, konnten sie jedenfalls bei der Finanzierung mithelfen. Laut einem Brüsseler Gerichtsurteil waren sowohl Aabdelhamid Abaaoud als auch der Franzose Reda Kriket Mitglieder von Zerkanis Schleusergruppe. Verbindungen hatte Zerkani auch zum Brüssel-Selbstmordattentäter Najim Laachraoui und zum Paris-Selbstmordattentäter Chakib Akrouh. Zerkani ist in Haft, sein Urteil ist derzeit in Berufung.


Der Finanzier

Reda Kriket (34)

Der am Donnerstag im Großraum Paris gefasste Franzose war Dieb, Schmuggler und Gewalttäter, bevor er sich radikalisierte. Offenbar bereitete er jetzt einen größeren Anschlag vor – in seinem Versteck fand man Waffen und Sprengstoff. ’Auch hier führt die Spur nach Belgien: Mindestens einer der vor Kurzem in Belgien verhafteten Männer stand mit ihm in Kontakt. Kriket hat längere Zeit in Brüssel gewohnt und gehörte zum Schleuser-Netzwerk um Khalid Zerkani. Dort arbeitete er als Finanzier. 12.000 Euro soll er durch Raubüberfälle zusammengetragen haben.


Der Koordinator

Mohamed Belkaïd (35) †

Der Algerier war den Sicherheitsbehörden lange nicht aufgefallen, allenfalls unter seinem Alias-Namen Samir Bouzid. Belkaïd gilt als einer der Koordinatoren der Pariser Attentate. Am Abend des 13. November 2015 erhielt er eine SMS von den Tätern der Musikhalle Bataclan: „Wir sind losgegangen, wir fangen an.“ Kurz nach den Attentaten überwies er Geld an Hasna Aït Boulahcen, die Cousine von Abdelhamid Abaaoud, die ihrem Cousin das Geld in sein Versteck in Saint-Denis brachte. Im September 2015, also zwei Monate vor den Pariser Anschlägen, war Belkaïd in Gesellschaft von Salah Abdeslam und Najim Laachraoui bei der Reise von Ungarn nach Österreich kontrolliert worden, die drei wurden aber nicht weiter behelligt. Am 15. März wurde Belkaïd bei einem Polizeieinsatz in Brüssel-Schaerbeek getötet; Salah Abdeslam konnte fliehen und wurde drei Tage später gefasst.


Der Bombenbauer

Najim Laachraoui (24) †

Der in Marokko geborene Belgier ist im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek aufgewachsen und studierte Elektrotechnik, bis er sich radikalisierte. Er benutzte den Aliasnamen Soufiane Kayal. Aufgrund von DNA-Spuren an Sprengstoff und in konspirativen Wohnungen steht er unter Verdacht, Sprengstoffmeister für die Attentate in Paris gewesen zu sein. Laachroui hat sich laut Staatsanwaltschaft am Brüsseler Flughafen gemeinsam mit Ibrahim El Bakraoui in die Luft gesprengt. In einer Wohnung in Schaerbeek wurde nach dem Anschlag unter anderem hochexplosives TATP gefunden; im Umgang damit braucht man Spezialkenntnisse. Auch dies weist auf Najim Laachroui hin. Laachraoui soll außerdem zusammen mit Mohamed Belkaïd einer der Koordinatoren der Pariser Anschläge gewesen sein. Er hat jedenfalls zu dieser Zeit einen Anruf von Abdelhamid Abaaoud erhalten.


Der Logistiker

Khalid El Bakraoui (27) †

Der jüngere der beiden Selbstmordattentats-Brüder von Brüssel zündete die tödliche Bombe in der Metrostation Maelbeek. Kurz davor schickte er eine SMS mit dem Wort „Ende“ an einen kürzlich in Gießen festgenommenen Verdächtigen. Khalil war einer der Logistiker des Netzwerks: Er mietete die Wohnung im belgischen Charleroi an, in der die Pariser Anschläge vorbereitet wurden, und die Wohnung im Brüsseler Stadtteil Forest, in der sich Mohamed Belkaïd und Salah Abdeslam bis zum 15. März versteckt hielten. Khalil saß früher wegen Autodiebstählen im Gefängnis, sein Bruder Ibrahim (29) wegen Raubüberfällen.


Der Kumpel

Salah Abdeslam (26)

Der Franzose ist im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aufgewachsen. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder, dem Pariser Selbstmordattentäter Brahim (31), betrieb er dort die Kneipe „Les Béguines“ und betätigte sich als Kleindealer. Salahs Rolle ist umstritten: Manche halten ihn für unbedeutend und zu feige, bei den Pariser Anschlägen in den Tod zu gehen. Andere meinen, er sei ein wichtiger Logistiker. Salah mietete Autos für den Paris-Anschlag an und fuhr hochrangige Leute wie Abaaoud durch halb Europa. Abdeslam mit seiner Kneipe war der Kumpel vieler Netzwerkmitglieder. Er ist seit zehn Tagen in Haft. (kwi)

x