London Mancinis Revolution

Italiens Spieler feiern den Sieg.
Italiens Spieler feiern den Sieg.

Vor drei Jahren lag Italiens Fußball am Boden, nach der verpassten WM 2018 glaubte niemand mehr an das Team – außer Roberto Mancini. Der Coach erschuf eine Mannschaft, die bei dieser EM eine ganze Nation verzückt. Nun soll am Sonntag auch die finale Krönung folgen.

Bevor das Drama seinen schicksalhaften Höhepunkt erreichte, gab es eine Szene von erstaunlicher Leichtigkeit zu sehen im Mittelkreis des heiligen Rasens von Wembley. Normalerweise sind Kapitäne angespannt, konzentriert, im Wettkampf-Modus, wenn sie vor einem Elfmeterschießen bei einem großen Turnier zum Münzwurf antreten, der darüber entscheidet, vor welcher Fan-Kurve der entscheidende Akt der Partie stattfindet, und welches Team das Privileg des ersten Schusses hat. Aber Italiens Spielführer Giorgio Chiellini ist nicht normal. Er ist verrückt, im positiven Sinne. Er scherzte mit seinem spanischen Gegenüber Jordi Alba, lachte, schlug ihm gegen die Schulter, hob ihn hoch wie seinen eigenen Sohn. Das alles geschah unter den Augen und sehr zur Erheiterung des deutschen Schiedsrichters Felix Brych und seiner Assistenten.

Die Italiener hatten es schwer im EM-Halbfinale gegen Spanien im Wembley-Stadion in London. Sie konnten nicht wie sonst bei dem Turnier ihr ansehnliches Offensivspiel zur Aufführung bringen, sondern waren dem spanischen Ballbesitz-Fußball über weite Strecken unterlegen und hatten Glück, dass es nach 90 und 120 Minuten 1:1 stand durch Tore von Federico Chiesa und Alvaro Morata.

Rechtzeitig zum Elfmeterschießen aber, zur psychologisch zermürbendsten Disziplin im Fußball – da waren der Witz, die Freude und das Vertrauen in die eigene Stärke zurück, durch die sich Italien bei der EM auszeichnet.

Neben Chiellinis Frohsinn beim Münzwurf wurde das am besten bei dem letzten Elfmeter von Jorginho deutlich. Er lief an, machte einen Hüpfer – und schob den Ball sanft ins Tor zum 4:2-Endstand. Bei Chelsea schießt Jorginho seine Strafstöße immer so.

Aber die Nationalmannschaft auf diese Weise ins EM-Finale am Sonntag zu bringen – das zeugt von besonderer Coolness. Trotz dieses leichtfüßigen Schlussakts der bis dahin wohl besten Partie der EM verwendete Italiens Trainer Roberto Mancini hinterher schwere Worte. „Es gibt Spiele, bei denen man leiden muss“, sagte er. Oder: „Wir wussten, dass es hart wird.“

Und beides stimmte ja: die Italiener litten, sie hatten ein hartes Stück Arbeit zu bewältigen, aber am Ende versahen sie die Revolution Mancinis – er kam nach der verpassten Qualifikation zur WM 2018 ins Amt – mit ihrem vorläufigen Höhepunkt durch den Einzug ins Endspiel. Für die italienische Delegation ist klar, dass es dabei nicht bleiben soll. Der zweite EM-Titel nach 1968 ist das Ziel.

Die Italiener werden mit Tonnen an Selbstvertrauen in den Turnier-Showdown ziehen, mit dem Gefühl, dass sie den Titel verdient haben. Durch den Sieg gegen Spanien verlängerten sie ihre Serie ohne Niederlage auf 33 Spiele. 14 Partien nacheinander haben sie gewonnen. Sie sind bei der EM das wohl kompletteste, überzeugendste Team. Die Partie gegen Spanien zeigte außerdem, dass die Mannschaft mit Rückschlägen umgehen kann.

So spielten sie

Italien: Donnarumma - Di Lorenzo, Bonucci, Chiellini, Emerson (74. Tolói) - Barella (85. Locatelli), Jorginho, Verratti (74. Pessina) - Chiesa (107. Bernardeschi), Immobile (61. Berardi), Insigne (85. Belotti)

Spanien: Simon - Azpilicueta (85. Llorente), Garcia (109. Torres), Laporte, Jordi Alba - Koke (70. Rodri), Busquets (106. Thiago), Pedri - Torres (62. Morata), Olmo, Oyarzabal (70. Moreno)

Tore: 1:0 Chiesa (60.), 1:1 Morata (80.), Elfmeterschießen: Simon hält von Locatelli, Olmo verschießt, 1:0 Belotti, 1:1 Moreno, 2:1 Bonucci, 2:2 Thiago, 3:2 Bernardeschi, Donnarumma hält von Morata, 4:2 Jorginho - Gelbe Karten: Tolói, Bonucci - Busquets (2) - Beste Spieler: Donnarumma, Chiesa - Busquets, Olmo - Zuschauer: 57.811 - Schiedsrichter: Brych (München)

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