Panorama Brave böse Buben

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Vorbei die Zeiten, in denen Rockstars wild, wütend und ungezügelt waren.

Die neuen Musikstars sind ein bisschen wie die Generation, aus der sie stammen: brav, angepasst, unaufgeregt. Aber es gibt noch Hoffnung.

Wer die Neunzigerjahre nicht unter einem Stein lebend verbracht hat, der weiß: Noel Gallagher nölt gerne. Der frühere Oasis-Gitarrist teilt oft mal aus. Meist gegen seinen Bruder Liam, oft aber auch einfach so. Kürzlich war der sanfte Songwriter Ed Sheeran das Opfer seiner verbalen Attacken. Grund: Der rothaarige Popstar wird diesen Juli gleich drei Konzerte in der Londoner Wembley-Arena geben. Ein Umstand, der Noel Gallagher offenbar bestürzt: „Ich denke nicht, dass ich in einer Welt leben kann, in der so etwas überhaupt möglich ist.“ Es ist natürlich kein großes Wunder, dass einer wie Noel Gallagher mit einem wie Ed Sheeran herzlich wenig anfangen kann. Die Gallagher-Brüder, das waren zu Oasis-Zeiten so etwas wie die letzten Rockstars. Berühmt berüchtigt, so richtig old school drauf. Gigantismus und Größenwahn inklusive. Ed Sheeran („X“) ist da das krasse Gegenteil. Eher ein Leisetreter, ein stiller Junge mit seiner Gitarre, der nicht imstande scheint, die sprichwörtlichen Wässerchen zu trüben. Einer, der noch selbst jetzt, zu Erfolgszeiten, auf Dinner-Partys ignoriert wird und lieber von einem Haus mit Garten, Frau und Kindern träumt statt vom glamourösen Rocker-Leben. Ed Sheeran ist aber einer, der wie kein Zweiter für diese neue Generation an netten, braven Popstars steht, die in den vergangenen Jahren weltweit die Charts stürmten – und abseits ihrer Musik eher langweilten. Interviews mit Acts der Nuller-Jahre lasen sich meist so: „Wir waren Milchtrinker, die nach dem Konzert lieber über Gedichtbände philosophierten“, gab Ex-Sänger und Gitarrist Nino Skrotzki in einem Gespräch mit dem „Musikexpress“ unlängst zu – auf die Frage, ob er und seine Kollegen von Virginia Jetzt! denn zu ihren Glanzzeiten viele Groupie-Erfahrungen gemacht hätten. Und so wirft der nölende Noel tatsächlich eine spannende Frage auf: What happened to Rock ’n’ Roll? Mit dem Klischee des rüpelhaften Rockers im Kopf geht der Musik-Konsument spätestens seit den Siebzigerjahren spazieren. Klar, schon Elvis Presley galt in den Fünfzigern manchen Konservativen als Bad Boy – allerdings eher unfreiwillig, das Image des bösen Jungen war ihm, dem gottesfürchtigen Muttersöhnchen, sogar peinlich. In den Siebzigern hingegen war der „Böse-Bube“-Stempel vielmehr eine Anerkennung. Eine Auszeichnung. Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll, das war damals das Gebot der Stunde. Geht es nach dem Autor Michael Walker, hat der Urknall für diese neue Philosophie exakt 1973 stattgefunden. Er bezeichnet die Touren von The Who („Quadrophenia“), Led Zeppelin („Houses of the Holy“) und Alice Cooper („Billion Dollar Babies“) in seinem Buch „What You Want Is In The Limo“ als „Game-Changer“. Die Menschen hatten Geld, und sie waren bereit, es den Plattenfirmen für brachiale Rockmusik in den Rachen zu werfen. Im Zuge dessen wurden die Musiker von den Labels wie Prinzen behandelt, schreibt Walker. Das stieg dem einen oder anderen zu Kopf. Alkohol und Drogen wurden in rauen Mengen konsumiert, Groupies ebenso, und – und das war neu: Niemand hielt es mehr für nötig, das vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Der Geist des modernen Rockstars, er wurde in diesem Jahr geboren. In den Achtzigerjahren und den frühen Neunzigern fuhr dieser Geist in Stars wie Billy Idol oder Axl Rose. Wilde, wütende, harte, ungezügelte Rocker, die soffen, sich prügelten und auf der Bühne den überlebensgroßen Star gaben – wenn sie es denn für nötig hielten, überhaupt zum Auftritt zu erscheinen. Nirvanas Kurt Cobain schließlich paarte die Wut und Härte, für die seine Kollegen bekannt waren, mit einer großen Portion Sensibilität und Verletzlichkeit – und riss so das Bild ein, das man von Rockstars bis dahin gemeinhin hatte. Cobain war – wenn er auch nach seinem Tode ikonisiert und damit überlebensgroß wurde – zu Lebzeiten nicht der unangreifbare Bad Boy, den jeder bewunderte. Er, und das war sein Vermächtnis, personifizierte die Stimme des Außenseiters. Des Misfits. Er genoss die Vorzüge nicht, die das Star-Sein mit sich brachte, er litt unter dem grellen Scheinwerferlicht – bis er verglühte. Und sich eine Flinte in den Rachen schob. Es überrascht nicht, dass er mit Typen wie Axl Rose auf Kriegsfuß stand – und Oasis sich als kompletter Gegenentwurf zu Nirvana betrachteten und konzipierten. Was ist also nach Nirvana, was ist nach Oasis passiert? Nun, ein Stück weit bekommt eben jede Generation die Stars, die sie verdient – und die sie sich selbst heranzüchtet. Vertreter der Generation Y gelten als verwöhnt, als soziale, streberhafte Lebenslauf-Optimierer, die beim Latte-Macchiato-Trinken vergessen haben, wie man wütend und rebellisch ist, wo das doch eigentlich das ureigenste Privileg des Jung-Seins ist. Generation Y gleich Generation Angepasst? Generation Marktkonform? „Viele Studenten sind – im wahrsten Sinne des Wortes – so unheimlich nett, dass einem angst und bange wird“, befand Uni-Dozentin Christiane Florin 2014 im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Wenn schon die Eltern-Generation am fehlenden Rebellions-Potenzial ihrer Kinder rumkrittelt, dann ist wohl was falsch gelaufen. Ex-MTV-Moderator Markus Kavka, in seiner Jugend in den Achtzigerjahren als Gothic unterwegs, äußert derweil ein bisschen Verständnis für die Jugend, die heute mit einem enormen Erwartungsdruck fertig werden müsse. In seiner Zeitzünder-Kolumne schrieb er: „Für die heutige junge Generation ist das nicht mehr ganz so einfach. Wenn die 16-jährige Tochter mit einem irrwitzigen Färbe- und Asymmetrieszenario auf dem Kopf vom Friseur kommt, fällt Mutti nicht mehr wie früher in Ohnmacht, sondern besteht darauf, beim nächsten Termin auch mit von der Partie sein zu dürfen (...) Ein ähnliches Bild herrscht bei Vater und Sohn, wenn es mal wieder darum geht, wer jetzt die cooleren Sneakers trägt.“ Wenn’s nicht über Optik und Musik geht, dann vielleicht über die Politik? Nö. Politische Auflehnung, weiß Kavka, findet nur noch am äußersten rechten und linken Rand statt. Und das kann auch keiner wollen. Nicht falsch verstehen: Nun wollen wir den zeitgenössischen Bands natürlich keinesfalls die Pulle oder die Spritze ansetzen – das würde die Musik ja auch nicht besser oder inhaltlich wertvoller machen. Aber ein bisschen mehr Rebellion darf’s schon sein. Muss ja nicht wie bei Justin Bieber (peinlich) oder Pete Doherty (bemitleidenswert) sein. Lieber wie bei der Guerilla-Kapelle Shoshin etwa. Die Combo aus Greater Manchester hat im April ihr neues Album „Epiphanies and Wastelands“ veröffentlicht und Karriere gemacht, indem sie unangemeldete Straßengigs in ganz Europa spielte und schon mal den „Imperial March“ anstimmte, wenn die Polizei anrückte. Legendär war ihr siebenstündiger Gig beim Eurosonic Norderslaag Festival – obwohl die Band gar nicht zum offiziellen Line-Up gehörte. Eine Songzeile aus ihrem Track „Same To Me“ könnte man als Kritik an der heutigen Jugend deuten: „All you MFers look the same to me/All you MFers sound the same to me ...“ Es besteht also noch ein bisschen Hoffnung. Ach: Wie die Geschichte mit Sheeran und Gallagher ausging, wollen Sie wissen? Nun, der rote Ed reagierte – irgendwie wenig überraschend – gelassen. Und lud Noel per SMS zu den Konzerten ein. „Du verdammter ... Meine Tochter hätte liebend gern welche“, habe Gallagher dann geantwortet. Sheeran hat Noel die Anfeindungen nicht übelgenommen. Im Gegenteil: „Ich fand es ziemlich cool, in seinem Interview überhaupt erwähnt zu werden.“ Ein nettes Kerlchen eben.

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