Zweibrücken Zärtlich und hart zugleich

Leise Pfiffe, wie entfernte Windböen, erklangen im Dunkeln, dann setzten dezente, frühromantische Klänge von Felix Mendelssohn-Bartholdy ein. Hinter einem Thespiskarren reckten sich Fäuste in roten Boxerhandschuhen empor und begannen ein Spiel wie beim Puppentheater, während die Bühne sich nach und nach in einem magischen, warmen Licht erhellte: Mourad Merzoukis preisgekrönte Choreografie „Boxe boxe“ mit der Compagnie Käfig, Auftakt des Festivals Euroclassic, fesselte die Zuschauer am Sonntag im ausverkauften Espace Cassin im lothringischen Bitsch von der ersten Sekunde an.

Virtuose Körperbeherrschung in sportlicher wie ästhetischer Hinsicht und eine vielschichtige, fantasievolle Choreografie verbanden sich mit dem subtilen, facettenreichen Spiel des Quatuor Debussy zu einer homogenen Performance von unglaublicher atmosphärischer Dichte und Expressivität, die Klassik mit postmodernem Ausdruckstanz, Hip-Hop und Kampfsport vereinte. Das faszinierende Spiel der Hände zu der lautmalerischen Musik bezog seinen Reiz gerade aus der fehlenden Eindeutigkeit, die viele Assoziationen zuließ, und ging nahtlos über in ein strukturiert-variierendes Gewoge von Körpern, die sich in immer neuen Figuren ineinander verschlangen. Nach einem abrupten Schwenk zu minimalistischer Musik von Philip Glass gewannen die Bewegungen der Tänzer einen harten, kämpferischen Duktus; kantige Aktionen akzentuierten den Rhythmus der Musik. Die Bewegungen der Tänzer verlangsamten sich zu den ruhiger werdenden Streicherklängen, sie gingen über in einen Boxkampf in Zeitlupe − in ständigem Dialog mit der Musik, als ob sie sich wechselseitige Impulse geben würden. Der Kampf löste sich auf in raumgreifende Bewegungen; zu Melodien aus Giuseppe Verdis Oper „Luisa Miller“ begann ein anschaulicher pantomimischer Zweikampf vor einem Schiedsrichter. Trainingssituationen mit Elementen aus Ausdruckstanz und Hip-Hop wechselten bruchlos zu japanischen Kampfformen, begleitet von repetierten Motiven von Philip Glass, deren sogartige Wirkung sich in der präzisen Interpretation des Quatuor Debussy entfaltete. In kraftvollen Hip-Hop-Bewegungen boxte ein Tänzer mit Händen und Füßen in atemberaubender Körperbeherrschung gegen sein Trainingsgerät, bereitete sich auf einen in der nächsten Episode bildlich erzählten Zweikampf vor. Ob die drohende Eskalation durch den Schiedsrichter verhindert wurde oder durch die Musik, die beruhigend auf den Tänzer einzureden schien, blieb der Fantasie des Publikums überlassen. Musik und Aktion waren in dieser Episode so verzahnt, dass die Grenzen zwischen ihnen kaum mehr wahrnehmbar waren: Sie verwoben sich in Merzoukis kongenialer Choreografie zu einer multimedialen Performance, die sich zu einem Gruppenkampf ausweitete. Wechselseitige Impulse belebten die szenisch-choreografischen und musikalischen Interaktionen, ohne dass sich Szene und Musik je überlagert hätten; sie schienen in einem ununterbrochenen Dialog zu stehen. Bei einer Liebesklage aus Verdis „Luisa Miller“ wandelte sich der Kampf zur Beziehungskrise; zart-verhaltene Pizzicati der Streicher kontrastierten mit der lebhaften Körpersprache der Tänzer und hoben den Widerstreit zwischen Handlung und Gefühlen hervor. Die kraftvolle, spannungsgeladene Musik leitete über zur Situation eines Trainingscamps. Weite, raumgreifende Bewegungen zu Rhythmen von Maurice Ravel begleiteten eine Kampfsituation, die sich in mehrere Einzelkämpfe auflöste, bis schließlich nur noch ein Akteur wie ein antiker Gladiator im Scheinwerferlicht stand. Der Klangcharakter der Musik wandelte sich zu einem elegischen Requiem. Der Tänzer zeichnete mit packendem Ausdruck die Versuche eines Verletzten nach, der sich immer wieder erheben will und bei jedem Versuch wieder zurücksinkt: In anatomischer Deutlichkeit konnten die Zuschauer die Zuckungen seiner Muskeln in Zeitlupe verfolgen, bevor er endgültig wie bei einer rituellen Hinrichtung unter den boxenden roten Händen einer anonymen Gruppe zusammensank - eine Anspielung auf die Gewaltbereitschaft und den gnadenlosen Voyeurismus der postmodernen Mediengesellschaft. Gerade aus der Verbindung von anscheinend unvereinbaren Gegensätzen resultierten die unglaubliche Spannung und die zutiefst berührende Aussagekraft von Mourad Merzoukis Choreografie, die die Tänzer der Compagnie Käfig so mitreißend authentisch verkörperten, gleichzeitig zärtlich und hart, gefühlvoll und cool. Die vier Musiker des Quatuor Debussy fungierten dabei als musikalische Akteure und Gegenspieler, die ein transzendentes Moment zu der pulsierenden Körperlichkeit der Aktionen beisteuerten. Die Choreografie hielt den faszinierten Zuschauern einen Spiegel menschlichen Verhaltens vor.

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