Speyer „Saugt dich auf wie ein Schwamm“

Waldsee. Am vergangenen Donnerstag sitze ich im Fitnessstudio in Speyer auf einem Fahrrad und zweifle. Eigentlich wollte ich heute Abend nach Waldsee fahren, mal schauen, was dort abends auf den Straßen so los ist, aber jetzt regnet es in Strömen. Ich lese auf meinem Tablet einen Artikel über eine Jugendpsychiatrie, irgendwann fällt der schöne Satz: „Warte nicht, bis der Sturm vorüber ist, sondern lerne, im Regen zu tanzen.“ Alles klar, denke ich mir, steige ab, gehe duschen, packe einen Regenschirm ein und fahre nach Waldsee. Dort bitte ich eine junge Autofahrerin, kurz ihr Fenster runterzukurbeln: „Wo kann man denn abends in Waldsee hingehen?“, frage ich sie. „Ins ,Cartoon’“, sagt sie. „Grad die Straße runter.“ Hoffnung keimt in mir auf: Werde ich heute Abend etwa nicht wie bei meinem vergangenen Versuch in Dudenhofen stundenlang durch die Straßen streifen müssen? Als ich die Tür zum „Cartoon“ aufstoße, wird aus der Hoffnung Gewissheit: Rauch hängt in der Luft, Spielautomaten piepen, ein gutes Dutzend Männer steht vor Dartscheiben, Schobbegläser und Pfeile in der Hand, an der Theke sitzen zwei Männer, dahinter steht eine junge Dame. Ich bestelle mir ein Bier, setze mich dazu und stelle mich bei Dietmar, meinem Sitznachbarn, vor. „Du bist nicht von hier, oder?“, fragt Dietmar. „Nein, ich bin von der RHEINPFALZ und wollte mal schauen, was hier abends so los ist“, antworte ich. Zehn Minuten nachdem ich den Abend begonnen habe, klappt dann tatsächlich, was in Dudenhofen einfach nicht klappen wollte: Ich stoße mit einem Einheimischen an, wir trinken zusammen und unterhalten uns: über Waldsee, über Fußball, über Irland, wo es laut Dietmar die schönsten Frauen gibt. „Die sind nicht alle rothaarig“, erklärt er. Dietmar lebt seit seiner Geburt vor 50 Jahren in Waldsee, abends kommt er öfter mal ins „Cartoon“, manchmal spielt er eine Runde Darts, meistens sitzt er an der Theke. Er ist hier der einzige Waldhof-Mannheim-Fan unter lauter FCK-Anhängern. „Dieses Jahr steigen wir auf“, sagt er. „Ja, ja, Dietmar“, sagt die Barfrau. Wir unterhalten uns noch ein bisschen über Fußball, dann betritt Marco Natalino den Laden. Der 36-Jährige ist der Wirt, erfahre ich. Auch er freut sich über den Besuch der RHEINPFALZ, gibt erst mal einen Schnaps aus. „Ich lebe hier von den Dartsmannschaften“, erzählt er. Sechs Teams kämen regelmäßig zu Ligaspielen und zum Training, der Laden sei jeden Abend gut gefüllt. Einer der Dartspieler ist Volker Regenauer, der 48-Jährige hat gerade seinen letzten Pfeil für den Abend geworfen. „Zu Hause warten Frau und Kind“, sagt er. Zweimal die Woche komme er ins „Cartoon“ zum Dartsspielen, er sei Ersatzspieler in einer Mannschaft. „Man kann hier immer herkommen, ohne sich groß zu verabreden, die Leute kennt man ja.“ Ich setze mich wieder zu Dietmar, am liebsten würde ich den ganzen Abend hier bleiben, so nett sind die Leute. Aber ich will ja noch ein wenig von Waldsee sehen. Also, Dietmar, wo kann man hingehen? „Bei unserer Dönerbude gibt es den zweitbesten Döner der Pfalz“, sagt Dietmar. „Wo gibt es denn den besten, Dietmar?“, fragt die Barfrau. „Keine Ahnung.“ Sie gibt mir noch einen Tipp: „Bei Walter musst du noch mal vorbeischauen, der hat die Kneipe ,Alter Stern’.“ Ich verabschiede mich, laufe durch den Regen zur Dönerbude, esse einen wirklich sehr guten Döner und unterhalte mich mit einem Mann, der eben noch im „Cartoon“ Darts gespielt hat. Dann überquere ich die Straße und betrete den „Alten Stern“. Die Kneipe ist gut gefüllt, an der Wand hängen Bayern-Schals, wieder piept ein Spielautomat, ich setze mich an die Theke. „Na, hast du deine Runde gedreht?“, fragt mich mein neuer Sitznachbar. Da erkenne ich erst, dass er eben noch im „Cartoon“ neben Dietmar saß. Wir stoßen an, er erzählt mir von seinen Problemen, bittet mich aber, darüber nichts in die Zeitung zu schreiben. Dann geht die Tür auf: Dietmar kommt rein. Großes Hallo, unglaublich, eine Stunde bin ich hier, und kenne schon Leute, die um zehn Uhr in den „Alten Stern“ kommen. Nach ein paar Minuten scheint die Stimmung allerdings zu kippen: Ein Mann springt auf, schreit einen anderen Mann an, beschimpft ihn aufs Übelste. „Das ist nur heiße Luft“, erklärt mir mein Sitznachbar. „Die haben heute wieder einen Ton drauf“, sagt die Dame hinter der Theke und schüttelt den Kopf. Kurz darauf erfahre ich, wer Walter ist, der Wirt sitzt selbst am Tresen mitten zwischen den Streithähnen. Plötzlich springt er auf, trommelt sich auf die Brust und grölt: „I am Batman.“ Wieder klärt mich mein Sitznachbar auf: „Der meint Bettman, da will wohl jemand ins Bett.“ Ich stelle mich bei Walter vor, seit 17 Jahren hat er den Laden, erfahre ich. „Das ist meine Welt“, sagt er. „Gespräche, Spielautomaten, Getränke.“ Ein anderer Gast schaltet sich leicht lallend in das Gespräch ein: „Walter ist der verrückteste Wirt Deutschlands.“ Er selbst sei vor zwölf Jahren aus Franken gekommen und heute ein großer Fan von Waldsee: „Der Ort saugt dich auf wie ein Schwamm und lässt dich nicht mehr raus.“ Bevor mir das an diesem Abend passiert, verabschiede ich mich, ein Waldseer spricht mich zum Abschied auf meine Tour durch Dudenhofen an, über die ich vergangene Woche berichtet habe: „Da hat doch eine Frau gemeint: ,Der Ort ist tot’“, sagt er. „Da habe ich gleich gedacht: Das kann dir in Waldsee nicht passieren.“ Recht hat er. Ich verlasse die Kneipe, laufe durch die dunklen Straßen. Der Regen hat schon lange aufgehört. Waldsee, denke ich, schön war es mit dir. Bis bald!

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