Speyer „Mein Leben ist bunter geworden“

Am Etappenziel: Gottfried Jung in Pilgermontur vor der Kathedrale San Francesco in Assisi.
Am Etappenziel: Gottfried Jung in Pilgermontur vor der Kathedrale San Francesco in Assisi.

Der Mann war bis zum Erreichen des Ruhestands erfolgreicher Ministerialbeamter und engagierter Kommunalpolitiker. Er ist mit Leidenschaft Vorsitzender des Dombauvereins Speyer: Gottfried Jung. Und jetzt im Alter von 67 Jahren ist er süchtig geworden. Jung hat das Pilgern entdeckt – und kommt davon nach eigener Überzeugung nicht mehr los. Das weiß er nach jetzt zwei großen Touren. 2019 steht die nächste an.

„Pilgern ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Man entwickelt eine besondere Achtsamkeit“, schildert er knapp den für ihn prägendsten Eindruck. Was heißt das? „Sie achten auf alles, was sich direkt um einen herum abspielt. Vieles fällt auf, was früher gar nicht registriert wurde: der Schmetterling, der am Wegrand flattert, der Tau im Gras am Morgen, die Hitze, der Regen, die Begegnungen, die Gespräche, die Stille, das Ankommen am Ende jeder Etappe, das Erreichen des Ziels ganz zum Schluss, die Klöster, die Kirchen, die Gottesdienste, die Gesänge, die Gebete. Das sind teils spirituelle Erfahrungen“, sagt Jung. Er berichtet ganz rational und ohne Pathos. Zunächst. Dann gerät er schnell immer wieder ins Schwärmen. Der Zuhörer spürt, wie den Speyerer das Erlebte gepackt hat und wie es ihn – auch Wochen nach der Rückkehr von seiner Pilgertour – einfach nicht loslässt. Da ist schiere Begeisterung. „Es ist die vielleicht die schönste Erfahrung am Tag, zu erleben, wie die Sonne ihre Strahlen über den Horizont schickt, wie sie aufgeht und die Landschaft in frisches Licht taucht“, schreibt Jung in seinem Beitrag für die Kirchenzeitung des Bistums Speyer. Sie heißt ganz treffend „Der Pilger“. Der 67-jährige bekennende Frühaufsteher Jung geht regelmäßig kurz vor dem Morgengrauen auf die Strecke. Mal sind es 20, mal 30 Kilometer, die er am Tag bewältigt. Nicht immer läuft alles glatt, nie ist es ein Spaziergang. „Auf dem Weg nach Santiago 2017 hatte ich eine Entzündung am Bein. Ich musste einen Tag aussetzen.“ Weitergelaufen ist er dann sogar unter Schmerzen. „Ich bin nie ein Sportmensch gewesen. Ich bin Büromensch“, betont er entschuldigend und erklärend zugleich. Aber – und das ist auch eine große Erfahrung Jungs aus den beiden Pilgertouren bisher: „Jeder kann das schaffen. Er oder sie muss es nur wollen und sich etwas disziplinieren.“ Das Gefühl am Ende, es geschafft, das Ziel erreicht zu haben, sei unbeschreiblich. Eine wohltuende Mischung aus Dankbarkeit, Stolz, Erfüllung. Zwei Touren hat Jung bewältigt: Der Jakobweg ist 2017 die Premiere. Mit dem Zug geht es bis nach St. Jean Pied de Port am Fuß der Pyrenäen. In gut sechs Wochen marschiert er 700 Kilometer. 2018 folgt der Franziskusweg: von Florenz über Assisi nach Rom. 530 Kilometer in fünf Wochen, immer rauf und runter, kaum markiert, wenig gegangen. Als Beamter mit ausgeprägtem Ordnungssinn hat Jung die Touren natürlich umfassend vorbereitet: Schon am Schreibtisch in Mainz hatte er die Idee zum Pilgern. Seit er im Ruhestand ist, setzt er das Vorhaben um. „Die richtigen Schuhe sind von zentraler Bedeutung“, weiß er inzwischen. Nach der zweiten Tour ist sein erstes Paar durch. Trekkingstöcke, GPS, Handy, Kartenmaterial und detaillierte Planung sind unverzichtbar. „Ich habe mich dennoch verlaufen, musste manchen Kilometer zweimal gehen“, erinnert er sich gut Ebenfalls ein Muss: Training. Vier-, fünfmal die Woche morgens trotz Sommerhitze um 6 Uhr raus durch die Rheinauen und den Dudenhofener Wald, immer mit dem neun Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken – reale Bedingungen. Sonntags dazu die Kalmit hoch – auf Zeit. Das Ergebnis: Erfolg. Der Büromensch erarbeitet sich die notwendige Kondition, hat und hält seitdem ohne Anstrengung sein Idealgewicht – „80 Kilogramm wie einst als junger Mensch.“ Er steht die Touren durch, streicht sich im Gespräch darüber stolz über den – nicht vorhandenen – Bauch und sagt mit Blick auf kalorienträchtige Feiertage: „Die schrecken mich überhaupt nicht.“ Ende der „Randbemerkungen“ zur Tour: Der Pilger Gottfried Jung berichtet viel lieber wieder von seinen Erlebnissen unterwegs, vom Gefühl, am Etappenort in der Herberge anzukommen und sich auf dem Bett ausstrecken zu können. Aber erst, wenn Wäsche gewaschen („täglich notwendig“), klar ist, wann und wohin es am nächsten Morgen weitergeht – und die kleinen Wehwehchen versorgt sind. Überwiegend ist Jung allein unterwegs. Immer wieder kommt er ins Gespräch, läuft mitunter mehrere Tage auch gemeinsam mit anderen. Nachhaltige Begegnungen ergeben sich mit Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Motiven pilgern. Es entstehen Kontakte, die bleiben. So wie zu dem Paar, das schon bald nach Speyer kommt und sich die versprochene Domführung bei Jung abholt. Oder die Naturpark-Rangerin in Italien, die Jung hilft, seine Brille wiederzufinden (siehe: Am Rande). Aber vor allem und immer genießt Jung die Bewegung, die Natur, die Ankunft an der Herberge, die Ankunft bei sich. Ein Gefühl, das bleibt. „Ich gehe den Weg für mich immer wieder aufs Neue“, sagt Jung. Und er pilgert weiter: 2019 heißt das Ziel wieder Santiago de Compostela, dann von Portugal aus, im Frühjahr 2020 Jerusalem. Die Vorbereitungen haben begonnen. „Ja, es ist eine Sucht. Das Leben ist bunter geworden“, sagt er.

Freude: Jung (r.) und die Männer, die seine Brille gefunden hatten.
Freude: Jung (r.) und die Männer, die seine Brille gefunden hatten.
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