Neustadt Wo bleibt das befreite Lächeln?

Neustadt. Als Vielvölkerorchester, als Symbol für die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen wurde das 1998 in der neuen Hauptstadt Kasachstan gegründete „Astana Symphony Orchestra“ angekündigt. Umso größer die Überraschung beim Publikum: Fast ausschließlich junge, zum Teil auch sehr junge Musikerinnen und Musiker fanden sich am Dienstagabend beim Abo-Konzert auf der Saalbau-Bühne ein.

Das soll kein Schaden sein, mochten sich die Klassikfreunde beim Anblick des Jugendorchesters gedacht haben, denn erfahrungsgemäß bringen junge Leute oftmals sehr viel mehr Spielfreude und Leidenschaft mit als manches alteingesessene Routineorchester – was sich im Verlauf des Abends trotz des von militärischer Strenge geprägten Dirigats von Aidar Torybaev durchaus bestätigen sollte. Eröffnet wurde die aufregende zweistündige russisch-slawische Programmfolge mit einem eher selten aufgeführten Werk: Dvoraks symphonische Dichtung „Die Mittagshexe“ erzählt die grausame Geschichte eines furchteinflößenden Wesens, die in Böhmen traditionell vor allem dafür benutzt wurde, Kindern Angst einzujagen und sie damit folgsam zu machen. Glücklich schätzen konnten sich jene Konzertbesucher, die zuvor dem instruktiven Einführungsvortrag von Fritz Burkhardt beigewohnt hatten – Dvorak selbst skizzierte minutiös den kein gutes Ende findenden Handlungsverlauf. Aber auch ohne Grundwissen war Hörspaß garantiert: Aufgrund seines unübertroffenen Melodienreichtums und seiner witzigen instrumentalen Einfälle zählt das Werk zu den absoluten Selbstläufern, die auch bei erstmaligem Hören wenig Fragen offen lassen. Zweite große Überraschung des Abends: Anstelle von Professorin Aiman Mussakhajeva aus Astana, die kurzfristig absagen muste, übernahm Dima Tkachenko den Solopart im Violinkonzert von Alexander Glasunow. Großen Respekt vor der Leistung des Solisten: Das lediglich 20-minütige Werk zählt zu den technisch besonders anspruchsvollen Repertoirestücken virtuoser Geigenkunst. Beseelt von der Exzentrik eines Nigel Kennedy, äußerlich auffällig an Paganini erinnernd, schüttelt der junge Ukrainer den seinen mit allerlei Geigentricks gespickten Part, der seinen Höhepunkt in den flirrenden Doppelgriff-Trillern der Kadenz findet, scheinbar mühelos aus dem Handgelenk. Aber die Luft am Virtuosenhimmel ist dünn. Und ungeachtet der begeisternden Applausbekundungen des Publikums, vor allem nach der schlackenfreien Wiedergabe der berühmten Nummer 24 von Paganini, dem ultimativen Prüfstein aller Geigenvirtuosen – Weltklasse-Niveau klingt anders. Ein zierlicher Mann mit einem zierlichen Klangvolumen: So mangelt es zunächst an Strahlkraft in den Höhen, auch die Intonation wackelt zuweilen. Nach den melancholischen, manchen kritischen Ohren möglicherweise etwas zu süßlich geratenen Eingangssätzen, gewinnt er zunehmend an Sicherheit, spielt sich allmählich frei. Wunderbar der temperamentvolle rustikale Zugriff im Schlusssatz des Glasunow-Konzerts, dazwischen schöne Momente von salonhafter Eleganz à la Fritz Kreisler. Die vielgerühmte Orchesterdisziplin des „Astana Symphony Orchestra“ beginnt mit der strengen, bis auf Strümpfe und Schuhe exakt vorgeschriebenen Kleiderordnung. Da bleibt wenig Raum für Individualität. Auch ein befreites Lächeln nach den Stücken als natürliche Reaktion auf das wohlwollende Saalbau-Publikum scheint nicht erwünscht. Dass der Abend vor allem zur Sternstunde der Bläser geriet, lag primär am Repertoire selbst. Neben der „Mittagshexe“ boten vor allem die raffinierten Tonmalereien von Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ in der bekanntesten Orchestrierung von Ravel ein Feld für effektvolle Klangzaubereien. Eleganz und Humor im „Ballett der Küchlein in Eierschalen“ mit feinen Harfentupfern und kapriziösem Schlagwerk, brillanter Orchestervirtuosität in der prachtvoll kolorierten Darstellung keifender Marktweiber im 7. Bild und immer wieder majestätisch-triumphaler Blechbläserklang beim Wiedererscheinen der Leitmotive aus der Promenade und dem großen Tor von Kiew – Torybaev gelingt es nach der Pause, von seinem zackigen Dirigat etwas abzuweichen, um mit fein differenzierter Stabführung subtilere Klangbilder zu zeichnen. Auffallend auch hier: Insbesondere im Streicherapparat verfügen die jungen Gäste aus Kasachstan noch über viel Luft nach oben, wobei die Geschmeidigkeit der Register möglicherweise unter dem zum Teil unzulänglichen instrumentalen Material leidet. Viel Tschingderassabum als Zugabe: Die alte russische Zaren-Hymne in einer bombastischen Version von Tschaikowsky in Gestalt des Marche Slave op. 31.

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