Neustadt „Unbezahlbares Engagement“

Das Sportabzeichen in der Camphill-Lebensgemeinschaft Königsmühle, das sein zehnjähriges Jubiläum feiert, sei ein gelungenes Beispiel für Inklusion, sagen Peter Beier, seit 2011 Leiter der Lebensgemeinschaft, und Hans Schreiber, langjähriges Mitglied des SV Schöntal und stellvertretender Sprecher der Interessengemeinschaft (IG) Schöntal.

Zehn Jahre Sportabzeichen in Camphill für Menschen mit Assistenzbedarf – ein besonderes Jubiläum?Beier:

Ja! Das ist vor allem der Arbeit des SV Schöntal zu verdanken. Hier investieren fünf bis sechs Personen seit zehn Jahren im Sommer jede Woche drei bis vier Stunden Freizeit, um unsere Betreuten an gesellschaftlichen Ereignissen teilhaben zu lassen. Da kommen mindestens 3000 Stunden ehrenamtlich geleisteter Inklusionshilfe zusammen – meines Erachtens unbezahlbar. Wie kam es zu der Idee? Beier: Schon seit 1998 gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit der IG Schöntal auf dem Weihnachtsmarkt der Königsmühle. Mein Vorgänger Nils Ehmke fragte 2004 den SV, ob unsere betreuten Bewohner auch das Sportabzeichen ablegen könnten. Schreiber: Der Vorsitzende stimmte zu. Nun versuchte man nicht, die Menschen mit Behinderung in eine gesellschaftliche Norm zu integrieren, sondern man veränderte die Norm! Roland Kipp, Dieter und Ursula Herzog, meine Frau Heide und ich sowie Horst Gillich vom SV Schöntal begannen, ein neues Sportabzeichen mit Leistungszuschnitt auf die Möglichkeiten der Betreuten zu entwickeln. Beier: Schon vor zehn Jahren beispielhaft gelebte Inklusion – nicht die außerhalb stehenden Menschen werden angepasst, sondern eine gesellschaftliche Norm wird nach ihren Fähigkeiten verändert. Und zur Krönung wurde eine eigene Urkunde für die Bewohner der Königsmühle entworfen. Wie motiviert sind denn Ihre Sportlerinnen und Sportler auf dem Platz? Schreiber: Man merkt, wenn es im Mai losgeht, dass die Fitness der letzten Saison nicht mehr ganz da ist. Aber die Königsmühler kommen voller Tatendrang ins Stadion und erwarten Anregungen und Anleitungen. „Du hast es gut gemacht, aber im letzten Jahr konntest du mehr“ – so werden vorsichtige Brücken gebaut, wenn es schlechter läuft. Die Anleitung reicht vom Vormachen über die geführte Bewegung, um Verletzungen zu vermeiden. Wichtig ist der Vergleich mit anderen. Gemeinsame Aktionen machen Spaß. Beier: Natürlich spielt Fitness eine Rolle, Sport ist wertvoll für die Gesundheit. Entscheidender scheint mir aber, dass man sich Ziele setzt. Mit einem Ziel vor Augen kommt man auch durch schwierige Lebensphasen. Im Winter wird nicht gesportelt? Beier: Im Winter wird mittwochabends Gymnastik in der Königsmühle angeboten. Allerdings ist hier die Teilnahme nicht so groß. Offensichtlich ist das Stadion ein großer Anreiz. Wie erleben Sie das Miteinander? Schreiber: Berührungsängste haben sich schnell gelegt und die betreuten Personen begeistert mitgemacht. Ohne vorheriges Kennenlernen bei den gemeinsamen Weihnachtsmärkten wäre es viel schwieriger geworden. Es ist eine große Freude und motivierend, ohne Vorurteile auf Augenhöhe miteinander umzugehen. Die Menschen mit Behinderung wünschen sich die Kontakte, sind selbstständiger, und wir haben von ihrer großen Begeisterungsfähigkeit gelernt. Beier: Die Camphill-Lebensgemeinschaft hat durch die Aktivität des SV Schöntal an Bekanntheit und großer Akzeptanz im Umfeld gewonnen. Nicht jede Sportart ist möglich, wie nehmen Sie Rücksicht? Schreiber: Wir kennen mittlerweile die Leistungsfähigkeit der Betreuten. Daher wurde das Sportabzeichen umgestaltet. Es werden alle Disziplinen geübt: Ballweitwurf, Weitsprung, Kugelstoßen, 50-Meter- und 400-Meter-Lauf ohne Zeiten, da sie nicht individuell bewertbar sind. Wer Lähmungen hat, leistet im „Langsamlauf“ ein Vielfaches dessen, was ein „normaler“ Sportler im Schnelllauf bringt. Wenn jemand nicht schwimmen kann, bekommt er das spezielle Königsmühler Sportabzeichen, das Schwimmen außer Acht lässt. Und was machen die Sportmuffel? Schreiber: Am Anfang waren es etwa zwölf Teilnehmer, mittlerweile sind es 16 von 24 betreuten Bewohnern. Die Teilnahme ist natürlich freiwillig. Wird diese Form von Behindertensport öffentlich unterstützt? Beier: Bislang nur durch das freiwillige Engagement des SV. Eine wesentliche Anregung ist das von Banken und Behörden unterstützte und von der Lebenshilfe veranstaltete Sportfest. Sind die Urkunden wichtig? Beier: Einige Betreute hängen sich die Urkunden an die Wand und denken stolz daran zurück, andere haben das Abzeichen schnell vergessen, erinnern sich aber gern an die gemeinsamen Erlebnisse. Schreiber: Die Überreichung der Urkunde ist wie Weihnachten und Neujahr gleichzeitig. Jeder betreute Bewohner erhält mit der Urkunde ein kleines Präsent. Es ist die Freude an der öffentlichen Anerkennung, die uns allen so wichtig ist.

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