Neustadt „Ohne Hoffnung stirbt man“

Es dauert lange, bis sich an diesem Abend im Advent die Stimmung im Flüchtlingsheim etwas löst. Etwa zehn junge Männer, die in ihrem Leben eigentlich nie vorhatten, Schauspieler zu werden, schauen sich ein Video an, das bei ihrem Auftritt am Volkstrauertag auf dem Friedhof aufgenommen wurde. Mit weißen Gewändern sind sie da zu sehen, sie liegen zuerst auf dem Boden, dann stehen sie auf und bewegen sich tänzerisch auf einen Mann mit Jackett zu. „Das symbolisiert das Volk, das sich gegen Assad erhebt“, erklärt Mohammad Ali Mousa. Später sieht man in dem Video, wie Männer mit Jacketts die weiß gekleideten Tänzer mit Füßen treten. Niemand sagt einen Ton. Mohammad Ali Mousa ist der Einzige, der auch in seinem früheren Leben etwas mit Theater zu tun hatte. Er ist – oder war – Kunstlehrer und Regisseur. Inzwischen ist er einer von rund 70 Asylbewerbern, die in Haardt im Flüchtlingsheim leben. Dass er hier nun eine Theatergruppe leitet, hat sich ergeben, als das Flüchtlingsheim vor ein paar Monaten einen Anruf des Hambacher Theaters in der Kurve erhielt. Die Gruppe um Hedda Brockmeyer wollte das Thema Flucht und Asyl aufgreifen und fragte wegen Interviews an. Daraus entstand die Idee, selbst etwas auf die Beine zu stellen – in Kooperation mit dem Theater in der Kurve. So kam es zum Tanztheater am Volkstrauertag. Ahmad Alkhatib, der in dem etwa zehnminütigen Stück die Rolle des syrischen Diktators übernommen hatte, ist 24 Jahre alt, Student. Seine Heimatstadt gehört zu jenen Städten, die durch massive Angriffe der syrischen Armee gegen die Zivilbevölkerung traurige Bekanntheit erlangte: Homs. Alkhatib floh, nachdem seine zehnjährige Cousine bei Angriffen der Assad-Truppen im Schulbus getötet worden war. „Sie wollten mich zwingen, öffentlich zu behaupten, dass sie von der Opposition getötet worden sei“, erzählt der junge Mann. Nach Europa kam er, wie so viele, übers Meer. In einem Holzboot. Dass er jetzt Theater spielt, hat für ihn nur einen Grund: „Ich mache das für Syrien.“ Der Welt zeigen, was los ist in seinem Land – das ist sein Wunsch. Er weiß, dass es nur eine „kleine Sache“ ist, was die kleine Laientruppe in Neustadt machen kann. „Aber für uns ist es etwas Großes“, sagt er. Die Syrer bilden in der Theatergruppe den „harten Kern“. Schon deshalb, weil auch Regisseur Mousa Syrer ist. Mousa fiel in seiner Heimat in Ungnade, weil er mithalf, in einem Flüchtlingslager in der Türkei eine Schule aufzubauen. „Es gibt nichts dort“, erzählt er. Keine Kleider, keine Medikamente, nicht genug zu essen. Als er aus der Türkei zurückkam, wurde er wegen seines Engagements verfolgt. Er floh – in die Türkei. Seine Frau und seine vier Kinder folgten ihm etwas später. Noch sind sie aber in der Türkei. In Mousas Theaterstück findet der Syrien-Konflikt ein glückliches Ende. Mit Hilfe von außen – symbolisch dargestellt von der Jugendgruppe des Theaters in der Kurve – gelingt es, den Diktator zu besiegen. „Ohne Hoffnung stirbt der Mensch“, sagt Mousa. Das Theaterspiel gibt ihm Halt in der Fremde. Nicht jeder aus der Gruppe der Syrer macht mit bei dem Projekt. Da ist Cheiko Bassam, der schon länger in Neustadt ist und schon recht gut Deutsch spricht. Theater sei nichts für ihn, gibt er offen zu. Die Realität ist viel wichtiger für ihn, Bassam will endlich eine Wohnung finden. Seit Monaten sucht er schon und findet nichts. Oder Ahmad Alnassar. Der junge Mann, auch er Student, ist einfach zu traurig, um sich ablenken zu können. Und voller Sorge. Seine Frau, die schwanger war, hat gerade ihr Kind verloren. Jedes Mal, wenn von neuer Gewalt in Syrien zu hören ist, fürchtet er, auch sie zu verlieren. So trägt jeder in der Runde Verlust- und Gewalterfahrungen mit sich herum. Jack Catarata, sozialpädagogischer Betreuer im Flüchtlingsheim, hatte deshalb schon vor der Initiative des Hambacher Theaters die Idee, eine Theatergruppe ins Leben zu rufen. „Es geht darum, Emotionen zu verarbeiten“, sagt er. Gewalterfahrungen führten bei manchen Flüchtlingen zu Aggressionen, bei anderen zu Depressionen. „Viele können nicht schlafen“, erzählt Catarata. Das Theaterspiel sei eine Alternative zur Therapie. Die Syrer stellen in der Gruppe die Mehrheit, doch auch Angehörige anderer Nationalitäten machen bei dem Projekt mit. Beispielsweise aus Eritrea oder Afghanistan. Und auch Deutsche sind beteiligt. Wie Hans-Peter Michel vom Nachbarschaftsladen, der auch eine ganze Menge Erfahrung als Laienschauspieler mitbringt. Mousa und Catarata haben jede Menge Pläne für das nächste Jahr. Mousa will ein Stück realisieren, das er schon einmal in Syrien inszeniert hat. Auch darin geht es wieder um Willkürherrschaft und Widerstand. Und Catarata hat sich Gedanken darüber gemacht, wo die Gruppe sich präsentieren kann. „Wir könnten Straßentheater machen“, schlägt er vor. Er legt dabei den Arm um den rund 20 Jahre jüngeren Ahmad Alnassar. „Machst du mit?“, fragt er. Alnassar nickt. Dann nimmt jemand ein Tambur in die Hand und beginnt, die Saiten zu zupfen. Ein anderer summt mit, schließlich stimmen alle mit ein. „Weg mit Assad, Freiheit, Freiheit, Freiheit“, singen sie. Zum ersten Mal an diesem Abend löst sich die bleierne Stimmung.

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