Neustadt Lebhaft, packend und klangschön

Neustadt. Eine Bachsche Matthäus-Passion von großer gestalterischer Geschlossenheit und Stringenz mit vielen Schönheiten im Detail gelang am Karfreitag Simon Reichert mit der Neustadter Stiftskantorei, dem Barockorchester „La Banda“ aus Augsburg und einem höchst achtbaren Solistenquintett in der ausverkauften Stiftskirche.

Bereits die Orchestereinleitung macht reine Freude: lebhaft bewegt, rasch, aber ja nicht hektisch, in wunderbar frisch atmendem, geradezu tänzelndem Grundmaß. Die Instrumentalisten spielen rein, präzis und recht ausgewogen in der Klangbalance, der Chor agiert sicher, bestens vorbereitet, agil und konturenscharf, setzt herrliche Akzente. Die Solisten, die sich in das wunderbar leichte und zugleich kraftvolle Gewebe des Eingangschors einzuflechten haben, sind der Stiftskantorei zunächst, was die Lautstärke angeht, nicht recht gewachsen, gewinnen aber rasch adäquate Kraft – kurz, der Eingangschor ist ungemein vielversprechend, und die ganze, von Simon Reichert beeindruckend konzentriert zusammengehaltene Aufführung hält, was sie verspricht. Reichert wählte eine Fassung, die Felix Mendelssohn-Bartholdy 100 Jahre nach der Entstehung der Werkes einrichtete, um es den aufführungspraktischen Gegebenheiten seiner Zeit anzupassen. Ihr Hauptvorzug: Mendelssohn kürzte die Passion durch Streichung betrachtender Rezitative, Arien, Dacapo-Wiederholungen und Choräle auf konzertant gerade noch passable zweieinhalb Stunden. Überdies gibt es weder Orgel- noch Cembaloakkorde im Generalbass, was den Orchesterklang in gewisser Weise entbarockisiert und freilegt, wie sehr Johann Sebastian Bach bisweilen über die Gepflogenheit seiner Zeit hinaus komponiert. Überdies, so hebt die interessante Einleitung im luxuriösen Programmheft hervor, hat Mendelssohn nach den Gepflogenheiten seiner Zeit den Notentext reich mit dynamischen Vorschriften bereichert, um emotionaleren Vortrag zu erreichen – eine Intention, mit der die insgesamt sehr erfreulich singenden Solisten unterschiedlich umgingen: der Tenor Michael Mogl war – auf der Kanzel – ein ganz in Mendelssohns Sinn lebhaft und beweglich gestaltender Evangelist, während der Bariton Christopher Jung, die Jesus-Worte wesentlich klassizistischer auffasste: Er sah seine Aufgabe offenbar nicht darin, sie nach menschlicher Weise zu emotionalisieren, sondern war vielmehr auf ebenmäßigen Wohlklang bedacht. Ungemein beeindruckend gestaltete der Bass Florian Spieß den Soliloquenten, sang den Hohepriester und den Pilatus mit durchdringender, metallischer Schärfe, plausibel gestaltend und mühelos den Kirchenraum bis in den letzten Winkel durchdringend. Vornehmlich betrachtenden Charakter haben in der Matthäuspassion die Beiträge der Solistinnen. Gunta Smirnova, Sopran, und Alexandra Rawohl, Alt, machten dem Zuhörer reine Freude. Sie sangen beide vollkommen klar und rein. Lebhaft bewegt verdeutlichten sie die ihren Arien innewohnenden Affekte, ohne gefühlig zu werden, kurz, man durfte in allen ihren Beiträgen das Gefühl haben, dass alles genau so ist, wie es sein muss. Insgesamt erfreulich präsentierte sich das Orchester, dessen Klang zwei Kontrabässe in der Tiefe stark fundierten, und immer wieder überraschte die Stiftskantorei durch die Präzision und interpretatorische Stringenz der Turbae-Stellen. Wie intensiv und scharf sie den einzigen Ausruf „Barrabam!“ modellierte, ist kaum zu schildern und kaum genug zu loben. Daneben viele Momente milder und ruhiger Schönheit in dem Chorälen. Insgesamt: ein großartiges Erlebnis, auch wenn es angesichts des Themas der Musik und des Tages schwer zu ertragen war, wie das Publikum die Akteure johlend feierte. Dass sie es verdient hatten, ist freilich nicht zu bestreiten.

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