Neustadt Die Lippen der Geliebten

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Neustadt. Mit sehr lang anhaltendem, stürmischem Beifall belohnte das Publikum am Sonntagabend in der Stiftskirche das Capricornus Ensemble Stuttgart, das zuvor unter Leitung des aus Mußbach stammenden Posaunisten Henning Wiegräbe verschiedene Vertonungen des Hohelieds Salomons aus dem frühen 17. Jahrhundert vorgestellt hatte.

Die Besucher erhielten schon vor dem Beginn einen kleinen Eindruck von der Klangfülle, die das Ensemble mit seinen historischen Instrumenten aufbringt. Bereits beim Stimmen ließen Henning und Eckart Wiegräbe an der Posaune, Maximilian Schrag an der Bassposaune, Nûria Sanromà Gabàs mit dem Zink und der Neustadter Stifts- und Bezirkskantor Simon Reichert an der Orgel die Luft im Kirchenschiff förmlich vibrieren. Wie ein Mantel aus Klängen hüllte dann im Anschluss auch das „Ego dormio“ des venezianischen Komponisten Gabriel Usper die Besucher ein. Die barocken Instrumente, verstärkt durch den Klang der Orgel, und die vier menschlichen Singstimmen waren so gut aufeinander abgestimmt, dass sie den Eindruck eines einzigen, großen Instruments erweckten. Doch diese Harmonie der ersten Takte und der darin musikalisch beschriebene Schlaf brechen ab, als der Geliebte anklopft und Einlass begehrt. Ein kurzes, stilistisch relativ schlicht gehaltenes, aber bezeichnendes Beispiel dafür, wie die Musik im Übergang von Renaissance zu Barock die Bedeutung des Textes unterstreicht. Das zeigte sich auch an Details wie den spielerischen Verzierungen über dem hellen „i“ in den „cincinni mei“, den Locken, deren Schwung man dadurch beinahe vor sich zu sehen meint. Weitaus kunstvoller ist das mehrstrophige „Hohelied Salomonis“ von Leonhard Lechner. Hier sangen die Sänger im Wechsel allein und mit Instrumentalbegleitung. Die Einladung „Veni, dilecte mi“ („Mein Freund, komme in meinen Garten“) in der Vertonung von Heinrich Schütz präsentierten die Sopranistin Anna Kellnhofer und der Tenor Manuel Warwitz im Duett, begleitet von Bläsern und Orgel, wobei vor allem der Zink, eine im frühen 17. Jahrhundert sehr beliebte Art Mischung aus Blockflöte und Trompete, die orientalische Wirkung der Musik verstärkte. Diese Einflüsse schienen auch in der Komposition von Giovanni Andrea Cima aus den „Concerti Ecclestiastici“ durch. Sie begann mit einem ganz weichen Posaunensolo von Henning Wiegräbe, wobei im Hintergrund Bruder Eckart die Echo-Posaune spielte. Beinahe wie aus einer anderen Welt klang das vom Sopran und den beiden Tenören Daniel Schreiber und Manuel Warwitz gesungene „Vulnerasti cor meum“ über das von der Liebe verwundete Herz. Die Sehnsucht bei der Suche nach dem Geliebten bei „Vadam et circuibo“ unterstrichen lange Töne, die an schwere Schritte erinnerten, die tiefen Töne des Bassisten Philip Niederberger und des hölzernen „stillen Zinks“. Das „Anima mea“ von Gabriel Usper interpretierte dieselbe Suche – nur sehr viel aufgeregter. Es faszinierte zu hören, wie unterschiedlich Komponisten einer Epoche dieselben Texte zum Klingen bringen. Eindrucksvolle Beispiele dafür sind auch „Ich bin schwarz“ von Leonhard Lechner und „Nigra sum“ von Claudio Monteverdi. Die meisten der durchaus erotisch geprägten Texte haben die Komponisten sakral vertont, andere aber, wie „Favus distillans“, das Loblied über die Lippen der Geliebten von Tarquinio Merula, gleichen einem Jubelruf, und die Aufforderung „Surge propera“ von Hieronymus Praetorius, bei der die Instrumente teils wie ein Echo die menschlichen Stimmen wiederholen, erinnert an ein musikalisches Versteckspiel. Dass diese Musik trotz ihrer Erotik früher auch tatsächlich öffentlich aufgeführt wurde, bestätigt Henning Wiegräbe auf Nachfrage. Die Texte, ohne die die Musik nicht verständlich ist, waren damals Gemeingut. Die heutigen Konzertbesucher konnten sie im Programmheft im lateinischen Original und in der deutschen Übersetzung mitlesen.

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