Ludwigshafen Verloren zwischen Hochhausschluchten

Edward Berger braucht keine spektakulären Verfolgungsjagden oder große Explosionen, um in seinen Filmen Spannung zu erzeugen. Er erzählt die „kleinen Geschichten“, wie er sie nennt, die aber nicht minder dramatisch sein können, jedenfalls wenn Edward Berger sich ihrer annimmt. Die Inspiration holt er sich direkt aus dem Leben, so wie bei seinem Film „Jack“.

Jack (Ivo Pietzcker) lebt mit seinem kleinen Bruder Manuel (Georg Arms) bei Mutter Sanna (Luise Heyer). Die kümmert sich aber nur sporadisch um ihre beiden Söhne. Deshalb hat der zehnjährige Jack die Verantwortung übernommen. Er macht Manuel Frühstück, bringt ihn zur Schule und geht mit ihm in den Park. Doch das Jugendamt wird auf die Situation aufmerksam, Jack kommt in eine betreute Wohngruppe. Als die Sommerferien beginnen und die Mutter Jack nicht wie versprochen abholt, haut der Junge ab. Manuel findet er bei Bekannten, doch Mutter Sanna ist verschwunden und der Haustürschlüssel im Gummistiefel vor der Tür ebenfalls. Die Kinder irren auf sich selbst gestellt durch die Großstadt. Jack lief Edward Berger zufällig über den Weg: Er habe eines Sonntagnachmittags mit seinem Sohn im Garten Fußball gespielt, erzählt er. „Da ist ein Junge mit einem Schulranzen vorbei gekommen. Er hat meinen Sohn kurz gegrüßt und ist weitergegangen. Ich fand es seltsam, dass ein Kind sonntags mit einem Schulranzen unterwegs ist“, erinnert sich der Regisseur. Der Junge hieß Jack und war ein Klassenkamerad, der unter der Woche in einem Heim lebte und nur das Wochenende bei seiner Mutter verbrachte. „Trotzdem hat Jack so eine positive Kraft und Zuversicht ausgestrahlt. Ich wollte unbedingt einen Film über so einen Jungen machen.“ Bergers Familiendrama ist ganz auf Jack zugeschnitten. Die Kamera ist meist auf ihn fokussiert, die Erwachsenen treten in den Hintergrund. Manchmal sind ihre Körper in Brusthöhe abgeschnitten, der Zuschauer nimmt die Welt auf Jacks Augenhöhe wahr. Es ist der Hauptdarsteller Ivo Pietzcker, zum Drehzeitpunkt zwölf Jahre alt, der dem Sozialdrama eine besondere Tiefe und Emotionalität verleiht. Die Geschichte von der Suche nach Jack allein ist eigentlich schon filmreif. Zahlreiche Kinder castete Edward Berger in Schulen und Sozialeinrichtungen. Denn eigentlich wollte der Regisseur einen Hauptdarsteller aus einem sozial schwierigen Umfeld. Einige dieser Kinder spielen Nebenrollen in dem Film. Doch „sein Jack“ war nicht darunter - auch weil Berger feststellte, dass der Film harte Arbeit und Stress für seinen jungen Hauptdarsteller bedeuten würde. „Da braucht man den Rückhalt einer starken Familie“, sagt er. „Zwei Monate vor Drehbeginn hatte ich immer noch nicht den geeigneten Jungen gefunden. Wir wollten das Projekt schon abblasen, da kam beim letzten Casting Ivo.“ Über eine Freundin von Edward Bergers Tochter war der Junge zum Casting gekommen. Zu spät und vom Regen durchnässt. Doch: „Seine Improvisation hat mich sofort überzeugt.“ Die weitere große Rolle neben Jack spielt die Großstadt. „Die Geschichte spielt zwar in Berlin, aber es könnte auch Köln oder Hamburg sein“, betont Edward Berger. Auf der Suche nach der Mutter irren Jack und Manuel durch Discos, Einkaufszentren und Hochhausschluchten, wie es sie in allen Großstädten gibt. Niemand beachtet die Kinder, sie gehen in der Menschenmenge verloren, irren unbeachtet durch die Straßen. Mit Mutter Sanna hat Berger eine Figur geschaffen, die man nicht pauschal verurteilen kann. Sie misshandelt ihre Kinder nicht. Liebevoll spielt sie mit ihnen, wenn sie nicht etwas Besseres zu tun hat. „Die Verantwortung ist ihr einfach zu viel. Sie ist sehr jung, fast selbst noch ein Kind“, erklärt Edward Berger. Während die Mutter ihre Jugend auslebt, zwingt sie Jack, erwachsen zu sein. Ein Rollentausch, der auf Dauer nicht funktionieren kann. Edward Bergers nächstes Filmprojekt beschäftigt sich wieder mit dem Familienleben. Es geht um drei Geschwister um die 40, die merken, dass sie ihr Leben umkrempeln müssen, um glücklich zu werden. „Das normale Leben bietet viele Konflikte, aus denen man ein kraftvolles Drama machen kann“, findet der Filmemacher. Sein „Jack“ ist der beste Beweis.

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