Ludwigshafen „Natürlich hinterfragen wir die Verhältnisse“

Tocotronic singen auf ihrem morgen erscheinenden „roten Album“ über vermeintlich profane Themen wie die Liebe und das Erwachsenwerden. Das hochgelobte Quartett um Sänger und Texter Dirk von Lowtzow wurde als Sprachrohr einer intellektuellen Verweigerer-Generation bezeichnet und als schnöselig, anti-modern und verkünstelt geschmäht. Olaf Neumann besuchte die Band in ihrem Hamburger Proberaum und sprach zwischen Raumschiffmodellen aus Lego mit der Rhythmusfraktion, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank.

Wie weiland die Beatles haben Sie 2002 ein weißes Album gemacht, jetzt ein rotes. Folgt dann noch ein blaues?

Jan Müller: (lacht) So weit kann man nicht in die Zukunft schauen. Wir gehen aber nicht nach dem Motto „Welche Farbe soll es denn heute sein?“ vor. Rot ist einfach die passende Farbe für dieses Album. Sie steht für die Liebe mit all ihren Facetten, aber auch für das Kämpferische. Zudem sieht dieser bestimmte Rotton einfach gut aus, was bei Popmusik nicht zu vernachlässigen ist. Das Oberthema der Platte ist Liebe. Wie kam es dazu? Müller: Der rote Faden hat sich so ergeben. Im Vorfeld haben wir viel über Dirks Texte gesprochen, weil jeder eine Meinung zum Thema „Liebe“ hat. Arne Zank: „Love Song“ ist zwar ein sehr abgelutschter Begriff, aber bei allem Abgrenzen interessieren uns auch klassische Formate, die wir gerne ausdehnen. Das wirft dann interessante Fragen auf, wie: Ist „Solidarität“ überhaupt noch ein Liebeslied? Ich finde es schön, Grenzen zu überschreiten. Ein Lied heißt „Chaos“. Was interessiert Sie am Chaos? Müller: Zuerst einmal beschreibt dieses Lied die sexuelle Komponente der Liebe. Und dann sollte Chaos für eine Rock-Pop-Band immer ganz wichtig sein. Man will ja nicht das Bestehende bestärken, sondern etwas Neues schaffen. Chaos ist produktiv. Finden Sie es banal, wenn andere sich von Ihrer Musik trösten lassen? Müller: Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil! Ich habe nie verstanden, dass immer gesagt wurde, unsere Musik sei abstrakt, verkopft oder intellektuell. Natürlich können einen die Texte auf intellektueller Ebene ansprechen, aber Musik funktioniert doch auf vielen Ebenen zugleich. Natürlich ist es erst mal angenehmer, wenn uns jemand als intellektuell und nicht als dumm bezeichnet. Aber manchmal wird das wie ein Ressentiment vorgetragen. Und das ist dann nicht so angenehm. Zank: Dadurch wird eine Hierarchie aufgemacht, die wir überhaupt nicht haben wollen. Wir erheben uns ja nicht per se über unser Publikum. Vieles, was Dirk in seinen Texten sagt, lassen wir anderen übrigens einfach so stehen. Manchmal übt gerade das, was man nicht versteht, einen großen Reiz aus. Wie perfektionistisch sind Sie? Zank: Leider sehr. Manche Stücke machten während der Produktion eine große Wandlung durch. Müller: Am Album arbeiteten wir eineinhalb Jahre intensiv. Ich finde, diese Verantwortung hat man als Künstler. Ein Künstler darf nicht selbstzufrieden werden und glauben, alles zu können. Was haben Sie sich aus Ihrer Anfangszeit bewahrt? Müller: Vieles. Ich hoffe, dass wir nicht total vermuckt sind, auch wenn wir unsere Instrumente heute ganz gut beherrschen. Wir bereiten hier im Proberaum gerade unsere Live-Konzerte vor und gucken, was wir aus unserem Repertoire so spielen können. So haben wir die Stücke „Samstag ist Selbstmord“ und „Du bist ganz schön bedient“ wieder aus der Mottenkiste geholt, weil sie eine ähnliche Geisteshaltung haben wie die heutigen Stücke. Zank: Ich glaube, wir haben uns die dialektische Gegenseite des Perfektionismus bewahrt – das Chaos und den Dilettantismus. Und dass man diese ganze Musik nicht allzu ernst nimmt. Ausufernde Schlagzeug- und Gitarrensoli werden bei Tocotronic auch in Zukunft verpönt sein? Müller: Die Gitarristen in unserer Band schätzen zu unserem Leidwesen Neil Young sehr. Das liegt ja auf der Hand, aber wir müssen sie manchmal ein bisschen bremsen, damit die Gitarrensoli nicht so ausufern. Dirk von Lowtzow sagte mal, er fände es grauenvoll, Vorbild für junge Bands zu sein. Wie sehen Sie das? Müller: Der Satz klingt erst mal gut. Es gibt ja diesen alten Punk-Spruch „No More Heros!“ Aber natürlich haben uns andere Künstler inspiriert, in meinem Fall waren das dilettantische Punkbands, die mir überhaupt erst den Mut gaben, selber ein Instrument in die Hand zu nehmen. Wollten Sie immer alles genau anders herum machen als andere Bands? Müller: Eigentlich nicht. Im Grunde machen wir ganz konventionelle Musik, die sich klassischer Akkorde bedient. Vielleicht ging es uns eher darum, sehr konzeptorientiert zu arbeiten und die technische Umsetzung eher zu vernachlässigen. Welches Lebensgefühl transportiert Ihre Musik? Müller: In unserer Frühphase grenzten wir uns noch von vielen Dingen ab, ohne dabei direkt punkig-ordinär zu sein. Wir haben die Hälfte unseres bisherigen Lebens mit der Band verbracht und mit der Zeit einen differenzierten Blick auf die Welt gewonnen. Ich glaube, Tocotronic ist heute mehr als ein Lebensgefühl. Die Band steht für einen bestimmten Blick auf die Welt, wobei man sich aber nicht immer einig sein muss. Natürlich hinterfragen wir die bestehenden Verhältnisse. Wenn das nicht mehr stattfinden würde, hätte unsere Band ein Problem. Wären wir satt und zufrieden, wäre unsere Kunst vielleicht nicht mehr interessant. Auf Festivals, wo mancher Volksmusik-Act als getarnter Indie-Rock-Act daher kommt, denke ich manchmal: „Was ist das eigentlich für eine Branche, in der ich hier tätig bin?“ Aber das sind Ausnahmesituationen. Eigentlich ist das Musikmachen eine sehr beglückende Tätigkeit. Die CD —Tocotronic: „Tocotronic“ (Das rote Album); Vertigo/Universal Termine —Tocotronic live: 6. Juni, Mendig/Rock am Ring; 1. August , Karlsruhe/Zeltival; 11. Oktober, Mannheim/Alte Feuerwache; 14. Oktober, Saarbrücken/Garage

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