Ludwigshafen „Gesellschaft braucht Orientierung“

Diskussionsbedarf: Norbert Lammert hielt im Schauspielhaus des Nationaltheaters die dritte „Mannheimer Rede“.
Diskussionsbedarf: Norbert Lammert hielt im Schauspielhaus des Nationaltheaters die dritte »Mannheimer Rede«.

„Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“ Eine Antwort auf diese Frage hat nach dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und dem Regisseur und Filmproduzenten Nico Hofmann jetzt in der dritten „Mannheimer Rede“ der langjährige Bundestagspräsident Norbert Lammert gegeben. Lammerts gesellschaftlicher Kitt: Leitkultur.

O nein, nicht schon wieder eine Debatte über Leitkultur! So war man versucht auszurufen. Doch der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert verankerte in seiner Rede im Nationaltheater den Lieblingsbegriff der Konservativen so elegant, so charmant und unaufdringlich im Grundgesetz und in der Bewegung der Aufklärung, dass seine Ausführungen akzeptabel waren. Das war desto mehr der Fall, als der CDU-Politiker nicht im Verdacht stand, er wolle kurz vor Wahlen eine Debatte vom Zaun brechen, um Stimmen am rechten Rand der Gesellschaft einzufangen. Lammert, bis zur abgelaufenen Legislaturperiode zwölf Jahre lang Bundestagspräsident und seit Beginn des Jahres Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, ließ deutlich erkennen, dass seine Weltanschauung im Katholizismus wurzelt. Zu seinem Thema leitete der 69-Jährige nämlich mit einem Zitat des späteren Papstes Benedikt XVI. und damaligen Kardinals Joseph Ratzinger hin: „Die rationale, die ethische oder die religiöse Weltformel, auf die alle sich einigen könnten, gibt es nicht. Jedenfalls ist sie gegenwärtig unerreichbar.“ Dieses aus dem Mund des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation im Vatikan, vormals Inquisition, unerwartete Bekenntnis zu weltanschaulicher Vielfalt wurde bei einem Gespräch 2004 in München ergänzt durch ein ebenso unerwartetes Bekenntnis des in der Tradition der Aufklärung stehenden Sozialphilosophen Jürgen Habermas zur Religion. Glaube und Vernunft – auf diese beiden Säulen, so lobte Lammert den Dialog von Kirchenmann und Weltmann, seien „die großen Kulturen des Westens“ gegründet. Nicht Geld oder Wirtschaft, nicht Politik oder Machtmittel hielten Gesellschaften im Innersten zusammen, sagte der Redner, sondern allein eine Kultur. Dabei will der promovierte Sozialwissenschaftler Kultur selbstverständlich nicht im engen Sinne von Theatern und Museen verstanden wissen, sondern als „das Mindestmaß an gemeinsamen Erfahrungen, Orientierungen und Überzeugungen“, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. „Nur solange es ein bestimmtes Maß an Gemeinsamkeit gibt, gibt es Zusammenhalt“, betonte Lammert. Der Begriff „Leitkultur“ übe nun zwar eine elektrisierende Wirkung aus, sei aber unverzichtbar. „Jede Kultur, die sich ernst nimmt, ist eine Leitkultur“, behauptete er. Den zwingend damit verbundenen Ausschluss anderer Kulturen und den leicht damit erhobenen Überlegenheitsanspruch der eigenen Kultur wehrte Lammert ab, indem er sich auf die Errungenschaften der Aufklärung berief. „Eine aufgeklärte Kultur wird sich nicht für die einzige, allen anderen überlegene halten“, meinte er. Gesellschaften bräuchten aber Orientierung, um Unterschiede zu ertragen, und Freiheit setze Bindungen voraus und werde erst durch Bindungen überhaupt erlebbar. Von Habermas’ Aufruf zu einem „Verfassungspatriotismus“ setzte Lammert sich vorsichtig ab. Eine Verfassung könne nie Ersatz, sondern immer nur Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft sein. Nichtsdestoweniger hob er am Grundgesetz – im Sinne der Vereinigung von Glaube und Vernunft – besonders den nicht selbstverständlichen Gottesbezug in der Präambel hervor und den ersten, nur als kulturelle Norm aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu verstehenden Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Eine Kultur, auch eine Leitkultur, sei kein irgendwann ein für allemal abgeschlossener Kanon von Werten. Daher seien alle in Deutschland eingeladen, diesen Wertekanon fortzuschreiben. In dem sich an seine Rede anschließenden Gespräch mit dem Schauspielintendanten Burkhard C. Kosminski und Christoph Hettich vom Heidelberger Bildungs- und Gesundheitsunternehmen SRH äußerte er sich dann besorgt über den gegenwärtigen Zustand der Demokratie. Warnend zitierte er aus der Abschiedsrede des amerikanischen Präsidenten Barack Obama: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen sie für selbstverständlich halten.“

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