Ludwigshafen Freiheitskämpfer im Klanglabor

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Seit 1981 vergibt der SWR seinen Jazzpreis, seit 2012 wird das dazugehörige Preisträgerkonzert innerhalb des Festivals Enjoy Jazz in Ludwigshafen veranstaltet. In diesem Jahr ist die Wahl auf den Pianisten und Komponisten Georg Graewe gefallen, ein Musiker, der seit mehr als drei Jahrzehnten in der improvisierenden Avantgarde zwischen Jazz und zeitgenössischer E-Musik heimisch ist. Im Kulturzentrum Das Haus stellte sich der 59-Jährige solistisch und mit seinem Trio vor.

Tief im Westen gab es nicht bloß Herbert Grönemeyer, sondern auch Georg Graewe. Der gebürtige Bochumer begann als Rockgitarrist, bildete sich weitgehend selber zum Pianisten aus, der den damals aktuellen Free Jazz für sich entdeckte und sich dann, sozusagen im Rückwärtsgang, die Jazzgeschichte aneignete. Da hatte er auch schon die zeitgenössische E-Musik im Blick, hörte nicht bloß Brötzmann und Schlippenbach, sondern auch Stockhausen, Xenakis und Boulez. Diese Pole markieren bis heute Graewes musikalischen Kosmos. Bekannt wurde er Anfang der 1980er Jahre mit seinem Grubenklangorchester, ein mit einem Dutzend Jazzmusiker besetztes Ensemble, das traditionelle Bergmannslieder mit Hanns-Eisler-Sound und Free-Jazz-Improvisationen zusammenbrachte. Graewes Betätigungsfeld wurde schnell international, er spielte mit vielen wichtigen Avantgardejazzern in Europa und den USA, komponierte Klavier- und Orchesterstücke und Opern, aber auch viel Gebrauchsmusik für Theater, Film und Hörspiel. Natürlich hatte er zahlreiche eigene Ensembles, das älteste, bereits 1989 gegründet, ist ein Trio mit dem niederländischen Cellisten Ernst Reijseger und dem amerikanischen Perkussionisten Gerry Hemingway. Die drei demonstrierten mit ihrem Auftritt in Ludwigshafen, wie unverbraucht und spannend radikale Improvisation immer noch sein kann, wenn instrumentales Können und menschlich-musikalisches Einverständnis stimmen. Ihr Zusammenspiel ist ein inniges Gespräch, eine von musikalischer Erfahrung und spontaner Eingebung geprägte Auseinandersetzung mit Rhythmus, Klang und den Möglichkeiten des Instrumentariums. Dies gilt vor allem für Graewes Kollegen: Reijseger spielt sein Cello akustisch und verstärkt, zupft es wie einen Kontrabass, präpariert es mit allerlei Klemmen, produziert mit über die Saiten rutschenden Fingern metallische Flageoletttöne, riskiert mit dem Bogen waghalsige Tonfolgen, trommelt auf den Korpus oder legt ihn sich quer auf den Schoß wie eine E-Gitarre. Hemingway macht aus seinem Drumset ein unermüdliches Archiv der Klänge und Geräusche, bearbeitet Trommeln und Becken mit Klöppeln, Händen oder einem Holzklotz, eilt zwischendurch ans Marimbaphon, auf dem er vom poetischen Schwirren bis zum perkussiven Gewitter ebenfalls alle Ausdrucksmittel bestens beherrscht. Graewes Pianospiel ist Unter- und Überbau dieses Klanglabors und Improvisationstheaters. Er sorgt für das strukturelle Gerüst, sichert ab, überholt die anderen aber auch, lässt seine Tonfolgen abheben und wieder sanft landen, verdichtet und intensiviert, schafft Momente der Entspannung, der räumlichen Weite. Noch deutlicher konnte man die Spielweise Graewes bei seinem Soloauftritt in der ersten Konzerthälfte verfolgen, hier ging der Pianist behutsamer vor, ließt sich mehr Zeit, entwickelte geduldiger seine Improvisationen. Und auch hier beeindruckte ein eleganter, federleichter Anschlag, der die Töne fliegen lässt, alles fernab von clusterdröhnendem Berserkertum. Wie kontrolliert das Ganze dann doch ist, erlebte man am Ende des Ensembleauftritts, als sich aus all der Improvisationsfreiheit plötzlich ein swingendes Klaviertrio herausschälte mit Walkingbass auf dem Cello, akkuratem Rhythmusspiel des Drummers und harmonischen Wechseln des Pianisten. Natürlich flog der Swing bald aus der Kurve, wurde das Tempo verschärft und die geschlossene Form irgendwann zum Teufel gejagt. Über den mit stattlichen 15.000 Euro dotierten Preis hat sich Graewe natürlich gefreut. Was er mit dem Preisgeld so vorhabe, wurde er in einem Interview gefragt? „Rechnungen bezahlen“, war die prompte Antwort. Ein Musikerleben fernab vom Mainstream war eben noch selten mit Reichtümern verbunden.

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