Ludwigshafen Alles im Fluss

Stadtgeschichtlich gesehen ist mein „Viertel“ ein ganz besonderes. Das zumindest erklärt mir Klaus Jürgen Becker vom Stadtarchiv, als ich mich dort über die Vergangenheit meines Wohnorts informieren möchte. Ich wohne nämlich in Mitte. Hier hat die junge Geschichte Ludwigshafens angefangen. Der ursprüngliche Stadtkern hatte bescheidene Anfänge, entwickelte sich jedoch rasant. Auf Abbildungen in Geschichtsbüchern ist zu erkennen, dass mein Stadtteil um 1853 aus vereinzelten Häuschen bestand, die in der Nähe des Hafens – dem heutigen Rheinufer - angesiedelt waren. Der Rest war freie Fläche. Etwas mehr als 50 Jahre später, um 1909, sieht die Sache schon ganz anders aus. Neben schicken Häusern ist auf den alten Fotografien zudem noch etwas anderes zu erkennen: Ludwigshafen war, ähnlich wie Mannheim, ursprünglich als „Quadratestadt“ angelegt. Die lineare Anordnung gab man laut Becker später jedoch auf – es folgten Straßennamen. Die Straße, die damals den Mittelpunkt des Stadtgeschehens bildete, war die Ludwigstraße. Ihr Name lässt noch heute auf ihre ursprüngliche besondere Bedeutung schließen, die maßgeblich durch die direkte Verbindung zum damaligen Hafen gegeben war. Wer damals erfolgreich war, wohnte in der Ludwigstraße. Auf dem Ludwigsplatz stand der „Monumentalbrunnen“. Ein bisschen Glanz der vergangenen Zeit strahlt der Platz meiner Meinung nach auch heute noch aus. Ich laufe gern über den Ludwigsplatz, wobei mein Blick oft nach oben wandert – im Sommer, um das grüne Blätterdach der alten Platanen zu bewundern, im Winter, um mich an den Lichterketten über meinem Kopf zu erfreuen, die den dunklen Nachthimmel erleuchten. Die Ludwigstraße verlor später ihre zentrale Bedeutung an die Bismarckstraße. In der Nachkriegszeit siedelten sich dort bedeutende Geschäfte und städtische Einrichtungen an – Kaufhof und die Stadtbibliothek sind nur zwei Beispiele. Während die Bibliothek heute noch existiert, hat Kaufhof vor Jahren seine Türen geschlossen. In den sieben Jahren, die ich nun in Ludwigshafen wohne, habe ich die Schließung und Eröffnung zahlreicher Geschäfte miterlebt. Die Bismarckstraße hat ihr Gesicht oft verändert. Dass sich das Straßenbild wandelt, ist für mich nicht unbedingt etwas Schlechtes – doch der Anblick der vielen Leerstände tut weh. Dabei sind Bismarckstraße und Umgebung eigentlich eine ziemlich gute Wohngegend für Leute, die sich den Luxus eines eigenen Fahrzeuges nicht leisten können oder bewusst darauf verzichten. Ein Aspekt, der mir mein damaliges Leben als mittellose Studentin enorm erleichterte. Seit meinem Zuzug wohne ich in der Schulstraße, keine drei Gehminuten vom Rathaus entfernt. Jahrelang erledigte ich fast alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad – auch heute benötige ich ein Auto nur gelegentlich. Alltägliche Einkäufe gestalten sich durch die Nähe zu den vielen Geschäften unkompliziert, beim Schleppen von Einkaufstüten und Wasserkästen durch die Stadt beschränkt man sich zudem aufs Wesentliche und tut gleichzeitig etwas für die eigene Fitness. Benötigt man einen neuen Reisepass, ist das Bürgerbüro im Rathaus einen Katzensprung entfernt. Und wenn man mal aus der Stadt raus will, ist man schnell am Bahnhof Mitte oder am Berliner Platz, von wo aus die Straßenbahnen in alle Himmelsrichtungen verkehren. Abends ist es in der Fußgängerzone sehr ruhig – ein weiterer Vorteil, wie ich finde. Manchmal sieht jedoch auch das ganz anders aus. So finden das alljährliche Stadtfest und viele andere Straßenveranstaltungen quasi direkt vor meiner Haustür statt. Die laute Musik und das bunte Treiben auf der Straße stören mich meistens nicht – ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu wissen, wann es sich lohnt, sich auch unters Volk zu mischen. Dröhnen die Schlagerlieder dann doch mal zu laut, sind entweder Ohrstöpsel meine besten Freunde, oder man flüchtet einfach mit der Bahn oder dem Fahrrad für einige Stunden vor dem Trubel. Auch kulturell hat mein Viertel einiges zu bieten. Staatsphilharmonie, Pfalzbau und Hack-Museum befinden sich quasi einen Steinwurf von meiner Wohnung entfernt. In dieser Ecke hat sich zudem einer meiner Lieblingsplätze angesiedelt: der Hack-Museumsgarten. Zwar gestalte ich den Garten nicht mit. Mich fasziniert jedoch das liebevoll gepflegte Sammelsurium aus Pflanzen, Kräutern und zusammengewürfeltem Gartenmobiliar. Während eines sommerlichen Sonnenuntergangs kann der Garten ein magischer Ort sein, der den Straßenlärm und die Betonbauten für einen Moment ausblendet. Ein anderer Ort, der eine magische Anziehungskraft auf mich ausübt, ist das Rheinufer. Unzählige Male bin ich die Strecke von der Rhein-Galerie, an deren Stelle zurzeit meines Zuzuges noch braches Industriegelände stand, bis weit in die Parkinsel hinein entlang spaziert – oft genug auch mit Besuchern von außerhalb. Beim Blick auf das Wasser tun sie dabei oft kund, dass die Stadt gar nicht so hässlich ist, wie es ihr nachgesagt wird. Für mich gibt es – besonders in der warmen Jahreszeit – kaum einen schöneren Ort, um einfach mal abzuschalten und die Gedanken schweifen zu lassen. Insbesondere in den frühen Morgenstunden ist man am Wasser umgeben von einer besonderen, fast andächtigen Stille, die sonst kaum ein anderer Ort in der Stadt bietet. Als ich des Studiums wegen nach Ludwigshafen zog, sollte es eigentlich nur eine Übergangslösung sein. Mittlerweile lebe ich hier seit über sieben Jahren, und aus dem damaligen Kompromiss ist für mich eine Dauerlösung geworden. Mein Viertel ist nicht immer schön, manchmal ist es zu laut und hektisch, manchmal zu still und wie ausgestorben. Und doch bin ich hier reingewachsen, und wenn ich heute von meinem „Zuhause“ spreche, meine ich damit nicht mehr mein Elternhaus, sondern meine kleine Wohnung in der Schulstraße in Ludwigshafen Mitte.

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