Ludwigshafen „Keine Liebesheirat“

Erben von SPD-Chef Willy Brandt: Martin Schulz und bald wohl auch Andrea Nahles.
Erben von SPD-Chef Willy Brandt: Martin Schulz und bald wohl auch Andrea Nahles.

SPD-Unterbezirkschef Martin Wegner ist sauer. Über Nacht hat die SPD mit Andrea Nahles eine designierte Parteichefin bekommen, und Martin Schulz, der eigentlich in die Opposition und nie Teil eines Kabinetts von Kanzlerin Angela Merkel werden wollte, strebt nun das Amt des Außenministers an. „Es ist vollkommen deplatziert, solche Wechsel mit dem Vertrag über eine große Koalition zu verknüpfen. Das ist eine desaströse Kommunikation und kein guter Start für Andrea Nahles“, sagt der 50-Jährige. Zum Unterbezirk SPD Vorderpfalz gehören rund 3400 Genossen aus Ludwigshafen, Frankenthal, Speyer und dem Rhein-Pfalz-Kreis. Die Personalentscheidungen an der SPD-Spitze überlagern bei der Basis die Diskussion über Inhalte des Koalitionsvertrags, sagt Wegner. Er hält einen Außenminister Schulz für nicht vermittelbar. „Er ist als ehemaliger Europaparlamentspräsident dafür qualifiziert. Aber er wollte kein Minister unter Merkel werden. Das ist unseren Wählern nicht zu verkaufen“, grollt Wegner. Auch die Übernahme des Parteivorsitzes durch Nahles habe ein „Geschmäckle“. Wegner, der eine Neuauflage der GroKo schon vor Beginn der Verhandlungen ablehnte, erkennt an, dass die Verhandler in Sachen Ministerposten im Bundeskabinett „ein beachtliches Ergebnis“ erzielt haben. Er will nun den 177 Seiten dicken Koalitionsvertrag durchackern. Aus seiner Skepsis macht er keinen Hehl, findet aber, dass jedes Parteimitglied für sich entscheiden sollte, ob es dem Vertrag zustimmt. „Der vorgelegte Koalitionsvertrag ist ein guter Kompromiss, der von sozialdemokratischen Vorstellungen geprägt und getragen wird“, wirbt die SPD-Bundestagsabgeordnete Doris Barnett (64) um Zustimmung. Bei vielen Projekten wie der Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung oder der „drastischen Einschränkung“ der sachgrundlosen Befristung sei die sozialdemokratische Handschrift erkennbar, meint die Oggersheimerin. Bei der Vergabe der Ministerposten habe die SPD Schlüsselressorts bekommen. „Wir verbessern das Leben von ganz vielen Menschen in unserem Land“, ist Barnett überzeugt. Dass Schulz nun Außenminister wird, begrüßt sie: Er sei schon lange im Thema drin. Da er sich zugleich nicht auch noch der Erneuerung der Partei widmen könne, sei der Vorstandswechsel zu Nahles sinnvoll. „Ich glaube, dass sie das kann. Das letzte Wort haben die Delegierten auf einem Sonder-Parteitag.“ Auch Ludwigshafens Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck (55, SPD) glaubt, dass Nahles eine gute Parteivorsitzende wäre. Sie kenne die ehemalige Arbeitsministerin schon lange. „Sie hat Mut, Biss und den Willen zur Veränderung. Alle, die glauben, sie könnten es besser, können sich auch bewerben“, meint Steinruck. Schulz habe mit seinem Rücktritt kein Chaos hinterlassen wollen. Er wäre ein guter Außenminister. „Er kennt Europa wie kaum ein anderer.“ Der Koalitionsvertrag sei eine solide Grundlage für einen Mitgliederentscheid. Für Kommunen wie Ludwigshafen sei es gut, dass der Vertrag mehr Investitionen in Schulen, Verkehrsinfrastruktur und Wohnungsbau vorsehe. Der CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Torbjörn Kartes (38) sieht ebenfalls eine Basis für eine neue Regierung: „Die große Koalition ist auch für die Union keine Liebesheirat. Sie ist aber das richtige Zweckbündnis auf Zeit. Entscheidend ist, dass die stabilen politischen Verhältnisse in Deutschland nicht weiter gefährdet werden. Dafür haben beide Seiten Kompromisse machen müssen.“ Er sei froh, dass CDU, CSU und SPD den Willen haben, zu gestalten. Das sei nicht bei allen Parteien der Fall. „Mit der großen Koalition kommen wir für junge Familien, gegen den Fachkräftemangel, bei der Steuerung des Zuzugs und bei der dringend notwendigen Digitalisierung ein gutes Stück weiter“, meint Kartes. Kritischer sieht die CDU-Jugendorganisation das Koalitionsbündnis. Der Ludwigshafener JU-Vorsitzende Maximilian Göbel (26) erkennt zwar „gute inhaltliche Kompromisse, manche Punkte sorgen bei mir aber auch für Bauchschmerzen“. Er vermisse eine Weichenstellung für ein verlässliches Rentensystem. Positiv bewertet er die Kompromisse beim Thema Flüchtlinge/Migration und dass in die Infrastruktur investiert werden soll. Zweigeteilt ist seine Einschätzung bei der Ressortverteilung. Er freue sich, dass die CDU wieder das Wirtschaftsministerium übernimmt, zugleich habe die SPD aber zentrale Ressorts wie Außen und Finanzen bekommen. Vor allem bei einem von der SPD geführten Finanzministerium habe er „Bedenken, dass wir von der Politik der schwarzen Null abkehren“. Der Ludwigshafener Juso-Vorsitzende Christoph Bätz (23) bleibt ein scharfer GroKo-Kritiker. „Inhaltlich ist der Koalitionsvertrag nicht weniger enttäuschend als schon das Sondierungspapier“, lautet sein Fazit. Das gelte fürs Thema Familiennachzug ebenso wie für den Klimaschutz. Dass Noch-SPD-Vorsitzender Schulz nun Außenminister werden möchte, kritisiert Bätz: Das „schadet leider nicht nur seiner Glaubwürdigkeit, sondern auch der unserer Partei. Ich hätte kaum geglaubt, dass er noch einen hätte draufsetzen können“. Dass mit Andrea Nahles schon die Nachfolgerin als Vorsitzende feststehe, mache die „Respektlosigkeit vor der parteiinternen Willensbildung deutlich“. Bätz befürchtet, dass die SPD in den kommenden Jahren keine Zeit für eine Erneuerung bekomme, da die Regierungsarbeit viel Kraft binde. Bätz fände daher den Weg in die Opposition immer noch besser.

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