Nussdorf Schon vor 500 Jahren wurde recycelt

Ausschnitt einer Aufnahme der alten Pergamentsstreifen.
Ausschnitt einer Aufnahme der alten Pergamentsstreifen.

Im Sinne der Nachhaltigkeit wird versucht, so viel Altes wie nur möglich wiederzuverwerten. Wer glaubt, das sei eine hochmoderne Denkweise, der irrt. Ein Beispiel des Landauer Buchbinder Klaus Müller zeigt, dass es sie schon vor vielen Jahrhunderten gab.

Beim Restaurieren von alten Büchern kommen immer wieder Besonderheiten ans Tageslicht. Davon berichtet Klaus Müller aus Nußdorf – und er muss wissen, von was er spricht. Er und seine Frau Hedwig sind nämlich Buchbinder, deren Spezialgebiet die Restauration alter Schriften ist. Sie hätten einen Schweinsleder-Einband mit offenen Holzdeckeln und zwei unvollständige Buchschließen vom Anfang des 16. Jahrhunderts zum Restaurieren erhalten, erzählt Müller. Zwei Lederreste mit Blindprägungen, also Motive, die ohne Farbe in das Material geprägt sind, waren nur noch auf den beiden Holzdeckeln aufgeklebt. Das Leder vom Buchrücken fehlte, Heftbünde, das sind die Schnüre oder Bänder, die quer über den Buchrücken verlaufen, und Heftlagen waren sichtbar.

Beim Ablösen der ersten und letzten Heftlagen mit einem feuchten Tuch kam unter den alten Vorsätzen je ein circa drei Zentimeter breiter beschrifteter Pergamentstreifen zum Vorschein. Der alte mit Feder und Tinte handgeschriebene Text ist unbeschädigt und noch lesbar. Die Pergament-Fragmente sind älter als das bedruckte Buch, wie Müller erklärt. Oben und unten sei noch die Originalhöhe erhalten, links und rechts fehlten große Textteile. „Die Breite des ursprünglichen Pergamentblattes betrug etwa 21 bis 22 Zentimeter und war beidseitig beschrieben mit je 34 Zeilen.“

Buchbinder Klaus Müller in seiner Werkstadt mit einem anderen Werk.
Buchbinder Klaus Müller in seiner Werkstadt mit einem anderen Werk.

Ein Bekannter der Müllers mit Kenntnissen zu mittelalterlicher Literatur und Handschriften konnte die gut lesbaren Texte tatsächlich entziffern. Er habe an allen vier Textspalten links und rechts die Textzeilen vollständig ergänzen können, berichtet der Nußdorfer Buchbinder. Es stellte sich heraus, dass das Pergamentblatt aus einem lateinischen Lektionar aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist, das vermutlich in Süddeutschland mit Tinte und Feder geschrieben wurde. Dafür sprechen unter anderem die St. Galler Neumen über den kurzen Evangelien-Texte im kleineren Schriftgrad, Vorläufer der eigentlichen Notenschrift.

Das Lektionar (lateinisch: lectionarium) oder „Lesungsbuch“ ist ein liturgisches Buch, das die Lesungen für den Ablauf des römisch-katholischen Kirchenjahres zum Vortrag beim Gottesdienst enthält. Die beiden Fragmente, die die Müllers gefunden haben, enthalten fast nur alttestamentliche Lesungen in sogenannter Lectio continua (fortlaufende Lesung), nämlich drei Abschnitte aus der Erzählung von Loth im Buch Genesis (18,33 -19,26) für Donnerstag bis Samstag in der Woche nach dem ersten Fastensonntag. Eine Besonderheit, so Müller, seien die Zugaben: Für jeden Tag ein Vers aus dem Propheten Ezechiel, ein gesungener Satz aus dem Tagesevangelium und das Gebet über das Volk, das am Schluss der Messen nur in der Fastenzeit gesprochen wird. Am Anfang noch Gebet und Evangelien-Zitate für den Mittwoch.

Neue Verwendung nach 300 Jahren

Neben dem Inhalt der Texte auf den Pergamenten verraten die Fragmente allerdings noch etwas anderes. Nämlich, dass schon vor 500 Jahren recycelt wurde. Denn die rund 800 Jahre alten Pergament-Fragmente fanden im Buch um das Druckjahr 1510 eine neue Verwendung. Das Thema Wiederverwertung von Altem im Sinne der Nachhaltigkeit ist also alles andere als eine moderne Neuerfindung.

Wie Müller erklärt, war dies in der damaligen Zeit durchaus üblich. In den handwerklichen Buchbindereien seien zur Verstärkung der ersten und letzten Heftlagen veraltete Pergamentblätter eingearbeitet worden. Auch wurden die nicht mehr aktuellen Handschriften als Hinterklebungen zwischen die Heftbünde verwendet. „Heute nimmt und sieht man auch noch alte gedruckte Papiere (Makulatur-Blätter) auf den Buchrücken von alten Büchern.“

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