Kreis Germersheim Nicht nur im Notfall zur Stelle

1985 blieb die Welt für Familie Weber einen Moment lang stehen. Als sie sich weiterdrehte, sollte nichts mehr sein wie vorher: Der dreijährige Sohn Raphael war mit seiner Schwester auf einem Spielplatz gegenüber des Hauses. In einer Sekunde sah Mutter Martina Weber noch ihre Kinder spielen, in der nächsten hörte sie ein Auto bremsen. Raphael lag leblos am Boden. Der Dreijährige war frontal erfasst worden, trug schwerste Hirnverletzungen davon. Die nächsten vier Jahre sollte er auf der Intensivstation in Karlsruhe verbringen. Als er wieder nach Hause kam, saß er im Rollstuhl, konnte weder sprechen noch schlucken, musste beatmet werden. Manche Familien zerbrechen an einem solchen Schicksal. Familie Weber ist stärker geworden. 11 Jahre lang übernahm die Mutter selbst mit Hilfskräften einen Großteil der Pflege, fast alle Nachtschichten. Der familieneigene Verlag HW änderte seine Ausrichtung: 1992 kam das Fachmagazin „not“ („Für Schädel-Hirnverletzte und Schlaganfall-Patienten“) dazu, 2009 „beatmet leben“ („Perspektiven zur außerklinischen Beatmung und Intensivpflege“). Aus Selbsthilfegruppen wussten sie, wie wenige Informationen es für die Verwandten von Betroffenen zu den Themen gab, erinnert sich Weber. Und die Familie wurde größer, zwei weitere Kinder kamen hinzu. Zeitweise konnte Raphael wieder selbst schlucken, kam 14 Stunden ohne Beatmung aus. Als er volljährig wurde, zog er in eine Wohngruppe, lebte in Mannheim, Kandel und Speyer. Er wurde zwar gut gepflegt, aber einige Fähigkeiten, wie das selbstständige Schlucken, gingen verloren. Als er wieder in eine neue Wohngruppe hätte umziehen müssen, weil die alte geschlossen wurde, holte ihn seine Familie nach Hause. Seit drei Jahren lebt der heute 33-Jährige wieder in Leimersheim. Seine Eltern haben Räume neben dem Verlag ausgebaut und sind so immer für ihn erreichbar. Dort kümmert sich ein Team 24 Stunden pro Tag um ihn. „Wir versuchen, ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln“, sagt Weber. Jeden Tag geht es mit dem Rollstuhl an die frische Luft, mal zum Zuschauen beim Fußball, mal zum Bäcker. Termine mit Ergo- und Physiotherapeuten und anderen Fachkräften strukturieren die Woche. Raphael teilt seine Gefühle mit, freut sich über Besuch oder schreckt vor neuen Situationen zurück. Aber das fein ausbalancierte System gerät ins Wanken, wenn Raphael einen Infekt bekommt: Dann wird dringend ärztliches Fachwissen benötigt. In den vergangenen Jahrzehnten hatte das Ekkehard Pilz aus Leimersheim, übernommen: Er kannte den Jungen schon vor seinem Unfall und hat die Familie ganz selbstverständlich weiter unterstützt. Etwa einmal in der Woche kam er zum Hausbesuch vorbei, hat Windeln und andere Hilfsmittel verordnet und geprüft, wie es dem jungen Mann geht. Mit 69 Jahren muss Pilz sein Engagement aber langsam zurückfahren – und für die Familie begann die mühsame Suche nach einem Hausarzt, der auch Hausbesuche macht. Monatelang sah es so aus, als würden sie im Landkreis Germersheim niemanden finden, erinnert sich Martina Weber. Dann hätte Raphael für jede Diagnose in die Praxis oder in die Klinik gebracht werden müssen. Aufgrund des Beatmungsgerätes ist jedoch eine Fahrt im regulären Rettungswagen nicht so einfach möglich, aufwändige und teure Spezialtransporte wären die Folge gewesen. Aber inzwischen ist Maria Rubio aus Jockgrim regelmäßiger Gast im Haus: Im Herbst haben sich Ärztin und Patient zum ersten Mal kennengelernt, inzwischen kommt sie alle zwei Wochen und bei Bedarf in Leimersheim vorbei. Eine neue Hausärztin, die auch noch auf Hausbesuche vorbeischaut – für Raphael und seine Familie war das ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk.

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