Geschichten aus der Geschichte Auswanderung: Träume werden von Realität eingeholt

Eugen Lösch (1891-1965) als Soldat im Ersten Weltkrieg: Sein Urgroßvater Georg Jakob wurde in Bessarabien gezeugt und kurz nach
Eugen Lösch (1891-1965) als Soldat im Ersten Weltkrieg: Sein Urgroßvater Georg Jakob wurde in Bessarabien gezeugt und kurz nach der Rückkehr der Eltern Mitte Februar 1810 in Leimersheim geboren.

Seit dem Überfallkrieg Putins auf die Ukraine ist auch die seit 1954 ukrainische Halbinsel Krim regelmäßig Inhalt negativer Schlagzeilen. Das Land war durch Anwerbung Ziel vieler Auswanderer – auch aus der Pfalz. Ein Erlebnisbericht.

Der Krieg in der Ukraine, die vorige Besetzung der Krim, die aktuellen Kriegshandlungen: Vielleicht teilen schon jetzt einige russische Soldaten die Haltung von Auswanderern aus Leimersheim und Hördt, die in einem Reisebericht 1810 schrieben, dass sie für ihre Rückkehr in ihr Heimatdorf eine größere Summe „Geld mit Freuden“ gaben, da man sich „damit die Erlaubnis erkaufte, ein Land wieder verlassen zu dürfen, das wir nie gesehen zu haben wünschten.“

Veröffentlicht wurde der Erfahrungsbericht „Reise nach der Krimm“ am 11. März 1810 im Intelligenzblatt der Unterpräfektur des Speyerer Bezirks der damals von Napoleon besetzten Pfalz. Als Autoren werden Michael Höfer aus Hördt und Johann Georg Lösch aus Leimersheim genannt. Letzterer wanderte 29-jährig mit Frau und ihren ersten drei Kindern sowie dem ledigen Johann Philipp Marthaler Anfang Mai 1809 zusammen mit über 100 anderen Leimersheimern nach „Bessarabien“ aus. Durch die besondere Lage am damals noch unbegradigten Rhein mit seinen häufigen Überschwemmungen und seiner Grenzfunktion, die mit zahlreichen Truppendurchzügen und Einquartierungen verbunden war, litt das Bauern- und Fischerdorf Leimersheim besonders unter der französischen Besetzung.

Über 100 Leimersheimer emigriert

Die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung war gewachsen, als 1804 ein Erlass des russischen Zaren für die Besiedlung des eroberten, unsicheren Landstreifens am Schwarzen Meer warb. Hauptanwerbegebiet waren vor allem die rechtsrheinischen Gebiete des deutschen Südwestens, an die Leimersheim angrenzte. Spielte auch dies eine Rolle, dass Leimersheim in der linksrheinischen Pfalz bezüglich der Anzahl der Auswanderer die Führungsrolle einnahm? Zwischen 1804 und 1809 emigrierten weit über 100 Leimersheimer in das „Bessarabien“ genannte Gebiet am Schwarzen Meer, vor allem in den Raum um Odessa. Die größte Auswanderungswelle fand am 9./10. Mai 1809 statt, als 105 Leimersheimer heimlich den Rhein in Richtung Osten überquerten.

Es ging über Sachsen, Preußen und dem polnischen Galizien zum damaligen Grenzort Radziwill östlich von Lemberg (Lwiw), und von dort aus durch die heutige Ukraine bis nach Odessa. Ende August dort angekommen, wurden den Auswanderern schnell die Augen geöffnet, worüber die Rückkehrer Höfer und Lösch zur Warnung berichteten: „In Odessa wurden wir mit den übrigen angekommenen nach verschiedenen Orten der Kolonie geschickt, um dort den Winter zuzubringen und die Anlegung eines neuen Dorfs und die Anweisung des für uns bestimmten Landes abzuwarten. Wir trafen unsere Landsleute, die teils ein, teils mehrere Jahre schon dahin gezogen waren, in elenden mit Rohr gedeckten Hütten und in Lumpen gehüllt an; und es bedurfte wenig Zeit, um uns vollkommen zu überzeugen, dass wir in unseren Erwartungen grausam getäuscht und betrogen waren. [...]“, heißt es in dem Erfahrungsbericht.

Bewohner armseliger als Auswanderer

Weiter: „Was uns am stärksten auffiel, war [...], dass eben diejenigen, welche schon fünf oder sechs Jahre daselbst wohnen, elender und ärmer als die kürzlich Angekommenen sind; ein Beweis, dass auch bei dem anhaltendsten Fleiß keiner imstande ist, sich aus der Dürftigkeit emporzuarbeiten. Der Boden ist rauh und eisenfest. Beim ersten Umbrechen des Landes müssen sechs Ochsen oder vier Pferde vor den Pflug gespannt werden. [...] das Feld trägt nichts als Sommerweizen, Hafer und Kartoffeln; Winterfrüchte kommen nicht fort, weil bei der heftigen Kälte alles erfriert. Sommergewächse als Hanf, Flachs, Welschkorn geraten ebenso wenig, weil der Sommer mit großer Hitze anfängt, und die ganze Zeit bis zum Herbst wenig oder gar kein Regen fällt. Nicht einmal Rüben kommen auf; sie verdorren kurze Zeit nachdem sie aufgegangen. Der Boden ist im Sommer so hart und trocken, dass er aufspringt, und das Stroh vom Hafer und Weizen wird kaum zwei Schuh hoch“, berichten Höfer und Lösch.

Im Winter hatte man den Rückkehrern zufolge alle Mühe, „um sich vor dem Erfrieren zu schützen. In den elenden von dünnen Balken mit Leimen ausgestampften und mit Schilf leicht bedeckten Hütten ist kein anderes Feuerungsmittel als gedorrter Kuhmist und Rohr, welches an den sumpfigen Ufern des Dnisters geschnitten wird und wovon die meisten Ortschaften 4 bis 8 Stunden entfernt sind. Dass auf 30 Meilen kein Holz wächst, ist bekannt. Alle Versuche des Gouverneurs von Odessa, Obstbäume zu pflanzen, sind stets vergeblich gewesen. Er ließ schon mehrmalen mit großen Kosten Obstbäume und vorzüglich Maulbeerbäume aus der Moldau kommen, sie wurden mit aller Sorgfalt gepflanzt, starben aber immer den ersten Sommer wieder ab.“

Geld reicht kaum für Anschaffungen

Ankommende Kolonisten erhalten von der russischen Regierung pro Familie 355 Rubel in Papiergeld, „wovon man den 6. Teil im Auswechseln verliert, und nach Verlauf von zehn Jahren muss das Ganze, ohne Zinsen, wieder zurückbezahlt werden“, so der Leimersheimer und Hördter. Von der Summe „werden von den Beamten 175 Rubel für die Wohnung, deren Einrichtung derselbe gewöhnlich besorgt, angerechnet. Fenster, Türen und Kamine muss sich der Kolonisten noch besonders anschaffen. Der Überrest reicht zum Ankauf des nötigen Viehes, Ackergerät und der Saatfrüchte kaum hin. Weiter werden auf jeden Kopf, jung oder alt, von dem Tage, wo sie in Odessa anlangen, bis zur nächsten Erntezeit täglich zehn Kopecken oder fünf Kreuzer bezahlt; dann hört aber auch alle Unterstützung auf“.

In dem Reisebericht heißt es weiter: „Der Kolonist mag das erste Jahr eine gute oder schlechte Ernte haben; Krankheit, Viehseuche oder sonstige Übel mögen ihn treffen, er kann nichts mehr rechnen; und geht der Mann aus Elend oder Mangel zugrunde, so verlieren Frau und Kinder das Gut, es sei denn, dass sich ein anderer vorfindet, der die Witwe heiratet oder, dass ein erwachsener Sohn da ist, der die Wirtschaft antreten kann. Ist das aber nicht, so vergibt der Beamte das Gut nach Gutdünken wem er will. Nicht einmal eine Entschädigung können die Hinterlassenen fordern, auch dann nicht, wenn sie erweisen können, dass die Eltern von ihrem mitgebrachten Vermögen Gebäude ausgeführt oder das Gut auf sonst eine Art verbessert haben; der Tod des Vaters benimmt Ihnen alle Ansprüche auf das Gut, das dazugehörige Vieh und Ackergerät.“

Harte Strafen bei Vergehen

Ein ehemaliger österreichischer Unteroffizier, der den Titel eines Oberschultheißen führt, hat die Aufsicht über sämtliche Ortschaften und behandelt die Kolonisten streng: „Kleine Verbrechen oder Vergehungen als Ungehorsam und dergleichen werden mit Peitschenhieben, wovon sogar schwangere Weiber nicht verschont sind, bestraft; größere Verbrechen, worunter auch das Hinweglaufen gehöret, mit fünftägiger Knute: eine Strafe, die unter zehn kaum einer überlebt. Kommt er aber davon, so wird er noch auf zwei Jahre an den Karren geschmiedet. Zu entkommen ist beinahe unmöglich, indem die Kolonie viele starke Tagreisen von der Grenze entfernt ist, die überdies sehr scharf von Kosaken bewacht wird“, berichten die Rückkehrer. „Uns gelang es durch Vermittlung eines Straßburgers, der die Reise mit uns von hier bis Odessa gemacht, und bei der dortigen Kanzlei als Sekretär aufgestellt war [...].“ Ob die beiden Rückkehrer Höfer und Lösch auf die Krim kamen, bleibt unklar. Diese Halbinsel wurde zur selben Zeit von den Russen besiedelt, nachdem Katharina II. sie im russisch-türkischen Krieg eroberte. Die Zarin erklärte daraufhin 1783 die Krim „von nun an und für alle Zeiten“ als russisch.

Blühende Sonnenblumenfelder. Die pfälzer Auswanderer fanden mit ihren Familien anderes vor.
Blühende Sonnenblumenfelder. Die pfälzer Auswanderer fanden mit ihren Familien anderes vor.
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