Kaiserslautern Zeugnisse des Leids

Der Erste Weltkrieg gilt als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Neun Millionen Soldaten und fast sechs Millionen Zivilisten starben im ersten industrialisierten Krieg der Geschichte. Auch das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin nimmt das Gedenken an den Kriegsbeginn zum Anlass für eine Ausstellung: „1914-1918. Der Erste Weltkrieg“ ist ein facettenreicher Überblick über den Krieg, seine Voraussetzungen und Folgen.

Wie stellt man den Ersten Weltkrieg dar? Diese Katastrophe, durch die die politische Ordnung Europas nachhaltig zerbrach und die Millionen Menschen das Leben kostete? Kein leichtes Unterfangen. Das DHM hat sich für 14 lokale Stationen entschieden, darunter Verdun, Amiens, Brüssel, das ostpreußische Tannenberg oder Deutsch-Ostafrika, wo sich die Kämpfe bis zum Kriegsende im November 1918 hinzogen. Präsentiert werden markante Themen: die weltweite Ausdehnung des Konflikts, die neuen Formen der Propaganda und der Kriegstechnik, die Industrialisierung des Krieges und die globale Kriegswirtschaft. Die meisten deutschen Kolonien fielen vergleichsweise schnell in die Hände gegnerischer Truppen: Das chinesische Kiautschou und die kolonialen Erwerbungen im Pazifik standen schon ab Herbst 1914 unter japanischer, australischer oder neuseeländischer Verwaltung. In Afrika verloren die Deutschen Togo 1914, Südwestafrika 1915 und mussten Kamerun Anfang 1916 dem Gegner übergeben. Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die überhaupt nicht rühmlich hier zusammen kamen? Ein Verdienst der größten deutschen Ausstellung zum Thema ist zweifelsohne, dass auch abgelegene Gebiete wie die türkische Halbinsel Gallipoli oder die Schlachten zwischen Italien und Österreich-Ungarn in den Julischen Alpen ins Visier rücken. Die „Welt von Gestern“, von Stefan Zweig beschworen, ging damals unter. „Der Erste Weltkrieg wird gerade in Deutschland stark überlagert vom Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, doch wirkt der Erste natürlich bis heute noch nach“, resümiert Alexander Koch, der Direktor des DHM. Er will „die übergreifenden Zusammenhänge“ verdeutlichen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die Ausstellung mit Jugendlichen aus ganz Europa eröffnete, meinte im Blick auf heute: „Deshalb bin ich bei der Krimkrise sehr streng. Weil die territoriale Integrität der Pfeiler unserer europäischen Nachkriegsordnung ist. Wenn man einmal anfängt, was wann, wo und warum schon zu welchem Land gehört und worauf man ein Recht hat: Dann werden wir zu einem unglaublichen Unheil kommen.“ Das deutsche Kaiserreich galt Anfang des 20. Jahrhunderts als dynamischstes Land Europas. Die Bevölkerung wuchs rasant. Viele Unternehmen exportierten ihre Produkte in die ganze Welt. Und dann dieser Totentanz – mit dem Anschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau am 28. Juni 1914 als Ausgangspunkt. Die Österreicher Karl Kraus und Joseph Roth haben es frühzeitig auf den Punkt gebracht. Der „Radetzkymarsch“ – so der Titel von Roths grandiosem Roman – als Abgesang. In einem Tondokument erleben wir Karl Kraus, der sich über die einzige k.u.k-Kriegsreporterin, die nationalistisch gesonnene Alice Schalek, ereiferte. Überhaupt gehören die Ton- und Filmstationen zum Packendsten in dieser reich bestückten Schau. Der Pei-Bau allerdings hat von der Ausstellungslogistik her seine Tücken, manchmal fühlt man sich darin wie Kafkas Maus. Noch einmal: Wie zeigt man anschaulich deutsche – besser: europäische – Geschichte, die kein Ruhmesblatt war? Die Materialfülle ist manchmal erdrückend. Sehr lesenswert ist dagegen der Begleitband: „Der Erste Weltkrieg – in 100 Objekten“, der aus den eigenen Beständen schöpft – und daran exemplarisch Aspekte des Kriegs durcharbeitet. Die Ausstellung beleuchtet individuelle Schicksale, anrührend beispielsweise anhand eines Taschentuchs: Nach dem Erstarren der Front im Herbst 1914 befand sich der Nordosten Frankreichs unter deutscher Besatzung. Übergriffe auf Zivilisten, die Einführung der Zwangsarbeit und die während der deutschen Rückzüge in den letzten beiden Kriegsjahren verursachte Verwüstung bedeuteten großes Leid für die französische und belgische Zivilbevölkerung. Unzählige Familien wurden auseinandergerissen. Zahlreiche Französinnen waren daher auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten. So arbeiteten einige als Wäscherinnen für die einquartierten Soldaten. Das nun ausgestellte Tuch, bestickt mit einem Blumenkorb und der Aufschrift „Meiner lieben Frau“, hat der deutsche Soldat Arthur Brauer im besetzten französischen St. Quentin, der heutigen Partnerstadt Kaiserslauterns, gekauft – und ins thüringische Weißenfels geschickt. Bestürzend sind die unterschiedlichen Varianten von Gasmasken, die ebenfalls zu sehen sind. Im Sommer 1917 wurde ein neues Modell eingeführt: aus gasdichtem Ziegenleder und mit einem mit Aktivleder gefülltem Filter versehen. Als Warnsystem dienten in den Schützengräben gehaltene Tiere wie Kanarienvögel, die auf Luftveränderungen reagierten. Alarm lösten dann Wachen durch akustische Signale wie das Schlagen einer Glocke oder das Drehen einer Ratsche aus. Eine mobile Suppenküche – das größte Exponat neben allerlei schrecklichen Waffen – steht in der Schau neben dem von symbolischen Drähten umgebenen Kabinett zum Thema Kriegsgefangenschaft. Das chirurgische Lazarettbesteck lässt allerlei Scheußlichkeiten vermuten – 80 Prozent aller Verwundungen geschahen durch Granatsplitter oder Schrapnellkugeln. Im Unterschied zur Ausstellung „Die letzten Tage der Menschheit“, die das DHM 1994 zum Ersten Weltkrieg zeigte, steht nun das Massensterben im Vordergrund. Auch jenes der Zivilbevölkerung. Einen Höhepunkt erreichte der Hunger im Kohlrübenwinter 1916/17. An Unterernährung starben in Deutschland rund 700.000 Menschen. Der Ausstellungsbesucher braucht wohl einige Tage, um all dies zu erfassen – und zu verarbeiten. Ein Besuch jedoch lohnt sich unbedingt, gerade auch für junge Besucher. Man muss den Ersten Weltkrieg als Vorboten des Zweiten sehen. Und kann nur mit Karl Kraus sagen: „Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. Ich bleibe stumm; und sage nicht, warum. Und Stille gibt es, da die Erde krachte. Kein Wort, das traf; man spricht nur aus dem Schlaf. Und träumt von einer Sonne, welche lachte. Es geht vorbei; nachher war′s einerlei. Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“

x