Kaiserslautern Taktik statt Traum

Keine klassische Filmbiografie, sondern eine Taktikstudie, deren Struktur an Steven Spielbergs „Lincoln“ erinnert: „Selma“ von Regisseurin Ava DuVernay spielt vor 50 Jahren in Alabama und beleuchtet eine entscheidende Episode im Kampf der Aktivisten rund um Martin Luther King. In Zeiten des wieder aufflammenden Rassismus’ trifft der Film über den Einsatz für mehr Bürgerrechte in den USA einen Nerv, dem deutschen Publikum dürfte er zu redselig sein.

Die selbst aus Alabama stammende afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay, die bislang fürs Kino nur den kleinen Independentfilm „Middle Of Nowhere“ (2012) gedreht hat, betreibt keine Heldenverehrung: Ihr Film verklärt Martin Luther King Jr. nicht als Märtyrer oder unantastbare Ikone der Freiheitsbewegung der schwarzen US-Amerikaner. Sie zeichnet ihn vielmehr als kühl kalkulierenden Politiker, der auch bereit ist, Einzelne zu opfern, um das große Ziel zu erreichen. Der britische Bühnendarsteller David Oyelowo, zuletzt in „Der Butler“ zu sehen, spielt den Anführer der Bürgerrechtsbewegung als harten, bisweilen etwas selbstgerechten Entscheider. Auch als Ehemann ist der Aktivist nicht über alle Zweifel erhaben, was seiner klugen Ehefrau Coretta (die Britin Carmen Ejogo) keineswegs entgeht. Dennoch holt sie bisweilen für ihn das Eisen aus dem Feuer – etwa in einem Schlichtungsgespräch mit dem ungleich militanteren Malcolm X, dessen Ermordung vor ziemlich genau 50 Jahren, am 21. Februar 1965, dann im Film keine weitere Rolle mehr spielt. „Selma“ ist vor allem als Kräftemessen zwischen Martin Luther King und US-Präsident Lyndon B. Johnson (John Wilkinson) angelegt. Anlass des strategischen Duells: die Steine, die schwarzen US-Amerikanern 1965 noch in den Weg gelegt werden, sobald sie sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen wollen. Wahlrecht für alle, fordert Dr. King. Der unbeliebte JFK-Nachfolger aber will ihn hinhalten. Worauf der gerade mit dem Friedensnobelpreis bedachte Pastor seine Anhänger auf die Straßen schickt: „Selma“ ist eine Lektion in Diplomatie, ein Blick hinter die Kulissen der Macht und ein Film für geschichtsbewusste Zuschauer, der gehöriges Hintergrundwissen voraussetzt. Denn das Drehbuch von Paul Webb kommt ohne allzu viel Erklärungen aus. Kurz zeigt „Selma“ eingangs, wie eine hoffnungsvolle Afroamerikanerin, die sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen will, drangsaliert wird: Annie Lee Cooper (Oprah Winfrey) hat zwar alle Papiere beieinander, einen Bürgen und das Geld für die hohen Gebühren aufgetrieben, doch nicht mit dem Einfallsreichtum des zuständigen Beamten gerechnet. Mit einer unlösbaren Frage zur Staatskunde – sie soll die Namen aller 67 Bezirksrichter Alabamas aufsagen – torpediert er ihren Antrag doch noch. Wir befinden uns im Städtchen Selma zu Beginn des Jahres 1965. Nur 130 von 15.000 schwarzen Bürgern stehen hier im tiefsten Süden im Wahlregister. Und nun reist der 36-jährige Martin Luther King mit seinem engsten Kreis an: Den Pastoren, die sich unter dem Namen Christian Leadership Conference zusammengeschlossen haben, gilt der Ort als idealer Ausgangspunkt für Protestmärsche. Gerade da hier ein gewaltbereiter Sheriff (Stan Houston) und der unerbittlich die offiziell abgeschaffte Rassentrennung verteidigende Gouverneur George Wallace (Tim Roth) agieren, soll Selma die Wende bringen: King und seine Mitstreiter rechnen mit Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten, ja benötigen diese geradezu, um Gehör zu finden und den Druck auf Präsident Johnson zu erhöhen. Und so kommt bald ein völlig harmloser junger Bürgerrechtler im Beisein von Mutter und Großvater ums Leben, totgeprügelt von scharf gemachten Ordnungshütern. Ein erstes Bauernopfer. Doch der US-Präsident ist noch immer nicht bereit, ein neues Gesetz einzubringen, das der schwarzen Bevölkerung uneingeschränktes Wahlrecht einräumt. Worauf King sich zum großen, 80 Kilometer weiten Marsch von Selma nach Montgomery entschließt. Nach dem dritten Protestmarsch schließlich unterzeichnet Johnson im August 1965 den „Voting Rights Act“. „Selma“ ist ein sorgfältig komponierter Film, der ernüchtert. Das zähe Taktieren, die strategischen Überlegungen und die Härte gegenüber dem Schicksal einzelner Unterstützer aus den eigenen Reihen desillusionieren und wecken beim Zuschauer nicht gerade den Wunsch, sich politisch zu engagieren. Dennoch ist der für zwei Oscars nominierte und mit einem Golden Globe für den besten Song („Glory“ von John Legend) ausgezeichnete Film gerade auch für das heutige Selbstverständnis der USA wegweisend. Schade, dass die Academy of Motion Picture Arts And Sciences nicht die Chance genutzt hat, Ava DuVernay als erste afroamerikanische Regisseurin für eine mögliche Oscar-Trophäe zu nominieren. Die Academy-Awards werden am Sonntag verliehen. „Selma“ ist als bislang erste größere Kinogeschichte über die Arbeit von Martin Luther King Jr. immerhin in der Hauptkategorie „bester Film“ nominiert.

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