Kaiserslautern Spitzbube!

Dieser Mann entzieht sich dem Glamour gängiger „Event“-Klassik, und dennoch wird jeder seiner Auftritte zum Ereignis: So wie jetzt bei den Schwetzinger Festspielen, wo der französische Cellist Jean-Guihen Queyras mit seinem Klavierpartner Alexander Melnikov und der Musik von Beethoven, Debussy und Chopin das Publikum in den Bann zog.

Die mit spitzbübischem Lächeln angekündigte Zugabe im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses erklärt im Grunde, was eine große deutsche Tageszeitung vor einiger Zeit mit Erstaunen feststellte: dass ein so „außergewöhnlicher, unverwechselbarer, charismatischer Musiker wie Jean-Guihen Queyras noch nicht so selbstverständlich berühmt ist, wie es ihm gebührt“. Wo andere am Ende des Konzerts nochmals ihre Virtuosität zur Schau stellen, da spielt Queyras nun drei kurze Stücke – „wirklich kurz“, wie Pianist Melnikov mit unbewegter Mine versichert – von Anton Webern. Und dann ist Schluss. Nach einem grandiosen Abend, der ganz nebenbei die Geschichte des Violoncellos als kammermusikalisches Soloinstrument streift, von den Anfängen mit Beethoven bis hin zu Debussy – und eben Webern. Elf Jahre hat der in Kanada geborene Südfranzose Jean-Guihen Queyras in Pierre Boulez’ Ensemble Intercontemporain gespielt, hat hochgelobte Einspielungen etwa der Cellokonzerts von Henri Dutilleux und György Ligeti vorgelegt und für ihn geschriebene Kompositionen aus der Taufe gehoben. Dann kam Bach, mit einer Aufnahme der Solosuiten, die zu den Besten gehört, die derzeit existieren; es folgten Haydn mit dem Freiburger Barockorchester (in Freiburg und Stuttgart lehrt Queyras an den Hochschulen), Beethoven-Trios mit der Geigerin Isabelle-Faust und dem Pianisten Alexander Melnikov – und auch die Sonaten für Cello und Klavier, von denen in Schwetzingen die in g-Moll (op. 5, Nr. 2) und A-Dur (op. 69) erklangen. In die langsame Einleitung der früheren, von 1796 und im Druck dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. gewidmet, legt Queyras tiefe Wiener Traurigkeit, bevor im Schlussrondo mitreißender Überschwang überwiegt. Sein Spiel ist hochkonzentriert und zugleich voller Wärme und Sinnlichkeit. Wäre dies bei seinem Klavierpartner Melnikov ebenso, könnte es des Guten zu viel sein. Kaum aber hat man für sich die Rollen verteilt: hier der emotionale Klangzauberer Queyras, dort der kühle, scharf anschlagende Analyst Melnikov, da vertauschen die beiden die Rollen. Fazit: Da ergänzen sich zwei hochkarätige Musiker, wie es besser kaum sein könnte. Was besonders der oft unterschätzten Sonate g-Moll op. 65 zugute kam, die Frédéric Chopin 1846 für seinen Freund Auguste-Joseph Franchomme schrieb. Dieser wiederum spielte für die Entwicklung des Cellospiels eine wegweisende Rolle. Queyras und Melnikov rücken das rund halbstündige Werk in die Nähe Beethovens, auch hier sind Klavier und Soloinstrument gleichberechtigte Partner, die gemeinsam aufbrechen in neue musikalische Welten. Wie Claude Debussy mit seiner d-Moll-Sonate, bei der das Cello bald als Rezitator, bald als Gitarrist auftritt: „Westwärts“ nach Frankreich also, „schweift der Blick“, steht als Titel über dem Programm. Jean-Guihen Queyras’ neugieriger Blick schweift in alle musikalischen Richtungen, und er besitzt die Gabe, die Zuhörer mitzunehmen. Auch das macht seinen Ausnahmerang aus. Zu erleben war eine Offenbarung in Sachen Liedgestaltung, über die sich nur schwärmen lässt, mit einem großartigen, optimal harmonierenden Duo am Werk. Wobei den entscheidenden Anteil des Klavierparts an der außergewöhnlichen Qualität der Wiedergaben gleich die ersten Töne des Konzerts, noch vor dem ersten Einsatz der Singstimme, unmissverständlich erwiesen haben. Denn durch ungemein markante Akzentuierungen verlieh Gerold Huber dem quälend obsessiven Hauptmotiv des ersten „Lied(es) eines fahrenden Gesellen“ - „Wenn mein Schatz Hochzeit macht“ - unverwechselbares rhythmisches und expressives Profil. Die bedrückende Atmosphäre war auf Anhieb präsent, der Boden für den Sänger ideal vorbereitet. Dieser machte aus dem Angebot seines Partners in großem Stil Gebrauch. Für Trauer, Klage und Weltschmerz der Mahlerschen Musik entwickelte Gerhaher feinste Antennen, setzte sie in bewegende Töne um, die die gesamte Skala der wechselnden Gefühls- und Stimmungsregungen ungemein beredt erfassten. So standen etwa bei den „Gesellenliedern“ den resignierten Akzenten von Wehmut und Niedergeschlagenheit die verzweifelten Ausbrüche, der leidenschaftlich dramatische Impuls des dritten Stücks, „Ich hab ein glühend Messer“, entgegen. Gerhahers wilde „O-weh!“-Aufschreie waren da von unnachahmlich erschütternder Wirkung. Selbstverständlich gehört andererseits Piano- und Pianissimo-Kultur unabdingbar zum Liedgesang. Säuseln kann zwar nicht unbedingt jeder, einige jedoch verstehen sich trefflich darauf. Was Gerhaher indessen besonders auszeichnet, sind seine seltene Klangsensibilität, die Vielfalt seiner Farbenpalette, die außerordentlich weit gefächerte Skala der Zwischentöne, die den Ausdrucksgehalt der Musik unerhört differenziert vermitteln. Am wichtigsten erscheinen freilich die gestalterische Intensität seines Vortrags und der unbändige Wille des Sängers zum Formen. Es fällt nicht leicht, sich die „Kindertotenlieder“ und einige der „Wunderhorn“-Lieder in facettenreicherer, schmerzlich suggestiverer, plastischerer Interpretation vorzustellen als sie diesmal in Schwetzingen erklangen. Nicht zu vergessen außerdem die bedrohliche Gewalt einiger düsterer Töne Gerhahers in tiefer Lage. Im Gedächtnis ebenfalls haften blieben die atmosphärische Dichte von Hubers prägnanter Artikulation militärischer Rhythmen und Tonfloskeln, so etwa – aber nicht nur – bei „Zu Straßburg auf der Schanz“.

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