Kaiserslautern Späte Ehre

Jürgen Becker erhält die wichtigste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur: den Georg-Büchner-Preis. Die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung wird dem 81-Jährigen am 25. Oktober in Darmstadt verliehen.

In dem enorm produktiven Leben des neuen Büchner-Preisträgers hat es einmal einen Moment der Krise gegeben. Der Schriftsteller verordnete dem Medium, in dem er sich bewegte, eine Pause. Er befreite sich von seinem chronischen Formulierungszwang. 1971 veröffentlichte Becker das fotografische Tagebuch „Eine Zeit ohne Wörter“, eine Sammlung unspektakulärer Fotografien, zufällig wirkende Schnappschüsse aus der deutschen Gegenwart. Der Wechsel von der experimentellen Prosa seiner ersten Bücher „Felder“ (1964), „Ränder“ (1968) und „Umgebungen“ (1970) zur Fotografie kam damals nicht überraschend. Denn Beckers Gedichte wie auch seine Prosa leben von der Wirkung visueller Reize auf die Sprache. Er hat seine Arbeit gerne mit der Technik der Landschaftsmalerei verglichen: „Sehr oft ist das, was ich schreibe, eine Erfahrung meiner Augen und das Ergebnis meiner Abhängigkeit von optischen Reizen und Motiven.“ Aber Becker ist als Schriftsteller nicht nur ein Augenmensch, sondern auch ein hochsensibler Ohrenzeuge. Zu den Urszenen seiner Biografie gehört die frühe Begegnung mit dem Rundfunk. Der 1932 in Köln geborene Becker verfolgte als Junge intensiv das Kriegsgeschehen am Radio. Später blieb die Überlagerung der Stimmen und Tonlagen im Radio die akustische Primärquelle seiner Literatur. Das Hörspiel wurde für ihn, der von 1974 bis 1993, die Deutschlandfunk-Hörspielredaktion geleitet hat, ein bevorzugtes Genre. 1982 hat Becker in dem Hörspiel „Ein August im See“ sogar das Trauma seiner Biografie preisgegeben. Mitten im Krieg, 1943, als er elf Jahre alt war, hatten sich seine Eltern scheiden lassen. Sie lebten zu diesem Zeitpunkt bereits in Erfurt. Das Scheidungskind wollte bei seiner Mutter bleiben – doch das Gericht entschied, dass es zum Vater kam. Drei Jahre später nahm sich Beckers Mutter in einem See das Leben. Das Hörspiel markiert zugleich einen Wechsel in Beckers Schreiben: War er bis in die 1990er-Jahre hinein vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten, so setzte er nun seine stillen Geschichtserkundungen als Erzähler fort. Bereits seine Gedichte, die er mit einem Tagebuch verglichen hat, fügen sich zu einem großen poetischen Journal des Jahrhunderts. In seinem Langgedicht „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ hatte er bereits 1988 die Umwälzung der deutschen Geschichte vorweggenommen, der Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ fügte dann 1999 eine eindringliche Betrachtung über das geteilte und wiedervereinigte Deutschland hinzu. Als „Baumeister einer Architektur der Erinnerung“ (Sibylle Cramer) hat Becker immer wieder bestimmte Schlüsselszenen deutscher Geschichte in seinem Werk umkreist. Im Gedicht „Kirschzweig mit Nachrichten“ werden etwa der Bunker, in dem der Junge sich vor Luftangriffen schützte, die „Schlagbäume über dem Dorfweg“ und die darauf folgende „Lügengeschichte des Friedens“ zu einem Erinnerungsbild verwoben und eingesponnen in ein „Netz der Gleichzeitigkeit“. Bei Becker gibt es keine isolierten, in sich ruhenden, gleichsam unschuldigen Bilder, denn an ihnen allen haften die Spuren der Geschichte. In den Blick auf die Landschaft ist immer die Ahnung von Kriegsschrecken eingewoben. Und immer wieder begegnen dem Leser die „Kölner Bucht“ oder „Odenthals Küste“. Sie verweisen auf den Schreibort: ein Fachwerkhaus in Odenthal im Bergischen Land, in dem Becker mit seiner Frau, der Fotografin Rango Bohne, lebt. Der Büchner-Preis für diesen großen poetischen Erinnerungskünstler und stillen Chronisten deutscher Geschichte ist seit Jahren überfällig. Viel zu lange hat sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Zeit gelassen, um diesen Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa die Anerkennung zu gewähren, die er verdient.

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