Kaiserslautern So viel Aufbruch war nie

Zwischen Welthunger und Totentanz bricht die Kunst um 1500 auf in eine expressive Virtuosität, die in der Kunstgeschichte Europas ihresgleichen sucht. Mit der Ausstellung „Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500“ fixiert das Frankfurter Städel einen unvergleichlichen, aber kurzen Augenblick.

So viel Aufbruch war nie. Von Antwerpen bis zum Oberrhein, vom Donauraum bis nach Prag bestimmt eine ganze Generation von Künstlern in Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Skulptur und Buchmalerei die Koordinaten der Kunst überraschend neu. Die herannahende Reformation eröffnet der religiösen Malerei ungeahnte Freiräume, die sich im Laufe der bald einsetzenden Konfessionalisierung allmählich wieder schließen. Der bis an die Grenzen des Exaltierten, Hässlichen und Makabren vorangetriebene Furor erstarrt in ikonographischer Verbindlichkeit. Am Anfang sieht man Dürers Kupferstich mit den klassisch proportionierten Körpern von Adam und Eva – und daneben die modellartige hölzerne Gliederpuppe eines großen Bildhauers, der es nur zu einem Notnamen gebracht hat: Meister IP. Sein monumentaler Johannesretabel aus der Prager Teynkirche ist eine der bedeutendsten (und aus Platzgründen zerstückelt präsentierten) Leihgaben der Ausstellung. Maß und Zahl als verbindliche Kriterien bei Dürer, auf der anderen Seite ein meisterhaft inszeniertes Gewimmel von exaltierten Puppen, die als Apostel- und Heiligenfiguren posieren und sich kaum halten können in dem unsichtbaren Wind, der ihre verdrehten Leiber zu peitschen scheint. Man wundert sich, wie der um 1520 in Passau tätige Bildhauer es geschafft hat, dieses seltsam unheilig um einen athletischen Christus gruppierte Personal in einer in sich stimmigen Komposition zu bewältigen. Albrecht Altdorfer (um 1480 bis 1538) malte mit der Münchner „Alexanderschlacht“ (die in der Alten Pinakothek blieb) zwar auch so ein von einem der sensationellsten Himmeln der Kunstgeschichte überspanntes Wimmelbild, mindestens ebenso bekannt sind seine beängstigend wuchernden Landschaften, in denen Fichten und Kopfweiden sich exzentrisch spreizen und die geheimnisvoll offene Natur buchstäblich ins Leere ausläuft. Andererseits findet bei Altdorfer die Geburt Christi in einer klassischen Ruine statt, das Jesuskind ist magisch von innen erleuchtet und oben unterm Mond tanzen durchsichtige Putten, die jedem Surrealisten Ehre machen würden. Altdorfer wird traditionell unter der Rubrik „Donauschule“ gehandelt. Für die Frankfurter Kuratoren Jochen Sander (Städel) und Stefan Roller (Liebieghaus) ist das problematisch, der von ihm vertretende, zu Recht als Gegenbewegung zur Renaissance erkannte, hochexpressive Stil des Regensburger Malers ist in unterschiedlichen Ausprägungen im gesamten nördlichen Europa anzutreffen. Verhässlichung als Prinzip, das konnte sich auf die Dauer so nicht halten. Die unkonventionelle Haltung der in der Frankfurter Ausstellung zusammengefassten Künstler macht aus Gottesmüttern Dorfmägde und aus Heiligen halbdebile Typen. Das in seiner Kompromisslosigkeit erschreckendste Stück ist wohl die der Himmelfahrt Mariens assistierende Apostelgruppe des Meisters des Zwettler Hochaltars, einer wahrhaft ans Wahnhafte grenzende Zusammenballung nur schwer entwirrbarer Leiber. Wessen Fuß, woher dieser Arm, wem gehört dieser von schlangenartigen Haaren gesäumte Kopf? Ist es ein göttliches Wunder, was die erschreckt nach oben starrenden Augen da sehen? Oder handelt es sich um einen schrecklichen Albtraum: Der einer ihnen selbst verwehrten Auferstehung des Fleisches? Auch bei anderen Heiligenfiguren überrascht das Unangemessene der Darstellung, die fratzenhaften Physiognomien, die von Behinderungen versehrten Körper, die versteinerten, merkwürdig konstruktivistisch anmutenden Faltenwürfe, die Eiseskälte, die kein Mitleid und keine Einfühlung in das Geschehen möglich macht. Andererseits stehen wir staunend vor einer in eine Orgie aus Licht gehüllten „Gefangennahme“ eines niederländischen Anonymus, bewundern die an Heiterkeit kaum zu überbietende „Flucht nach Ägypten“ des Passauer Hofmalers Wolf Huber (um 1485 bis 1553) und Grünewalds Laurentius- und Cyriakus-Tafeln vom Frankfurter Heller-Altar, die den Meister des Isenheimer Altars plötzlich in einem ganz anderen Kontext erscheinen lassen. Eine Ausstellung voller Wunder und Rätsel. Nachdem Altdorfer drei Jahrzehnte und die „Donauschule“ ein halbes Jahrhundert aus dem Ausstellungsbetrieb verschwunden waren, ist sie sicher auch notwendig. Sie zeigt die andere, dunklere Seite des großen, vor-reformatorischen Aufbruchs und vermittelt zugleich eine Ahnung davon, warum so eine hochtourige Kunstauffassung nicht bleiben konnte. Zu überspitzt, zu exaltiert, zu überladen in ihrem keine Kompromisse kennenden horror vacui. Ein kurioses Beispiel dafür ist ein Bild des Landshuter Malers Georg Lemberger, der es noch 1535 fertigbringt, auf 67 mal 80 Zentimetern die Heilsgeschichte vom Sündenfall über die Verkündigung bis hin zu Kreuzestod und Auferstehung darzustellen – und das in einer Manier, die man nur als surrealistisch beschreiben kann.

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