Kaiserslautern „Müssten wir nicht einfach alle Suppe kochen?“

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Ein Fegefeuer der Eitelkeiten, eine Nabelschau der Film- und Theaterwelt hat Autor Albert Ostermaier für die Wormser Nibelungen-Festspiele 2016 angekündigt (wir berichteten). Sein Stück „GOLD. Der Film der Nibelungen“, an dem er gerade schreibt, soll am 15. Juli vor dem Dom uraufgeführt werden. Wir sprachen mit Nuran David Calis, den Intendant Nico Hofmann als Regisseur verpflichtet hat, über die Möglichkeiten des Stoffs und die Flüchtlingskrise.

Herr Calis, der Nibelungenstoff, in dem auch das Thema Kulturclash angelegt ist, und ein Regisseur, der sich schon oft auf der Bühne mit der Flüchtlingsnot befasst hat: Ich hätte gedacht, dass sich die Nibelungen nächstes Jahr stärker mit der aktuellen Krise befassen.

Ich glaube, dass wir Künstler uns davor hüten müssen, uns über die Flüchtlingsproblematik zu profilieren. Das ist eine ganz große Falle. Wir tun den Flüchtlingen und auch der Debatte keinen Gefallen damit. Das Thema des Stücks schließt ja die Flüchtlingskrise gar nicht aus, die mich bewegt und auch das Land extrem beschäftigt. Es bedeutet nur – darüber denke ich gerade noch nach –, ob das wirklich sinnvoll ist, mit Flüchtlingen aus Aufnahmestellen zu arbeiten und sie als Laien auf die Bühne zu stellen. Wenn wir uns entschließen, das Flüchtlingsthema aufzugreifen, müssen wir dem auch in einer ästhetischen Form begegnen. Dazu gibt es Ideen, die ich verfolge, auch über die musikalische Ebene. Das Theater muss etwas anderes liefern als die Bilder, die uns derzeit vom Fernsehen um die Ohren gehauen werden. Sie überlegen also, ähnlich wie für Ihre Stücke „Brennpunkt: X“, uraufgeführt in Saarbrücken, und „Die Lücke“ mit Betroffenen zu sprechen? Genau. Aber es geht nicht darum, Aufsehen zu erregen, die Flüchtlinge und ihre Not auszunutzen. Der Abend muss schon als Kunstwerk bestehen. Wenn wir uns für das Thema an den Rändern öffnen wollen, müssen wir genau überlegen, in welcher Form. Es muss sichtbar sein, dass das Werk im Vordergrund steht. Ich werde nicht die Schleusen öffnen und den Bühnenraum mit 200 Flüchtlingen bestürmen lassen, nur damit der Zuschauer merkt, wie das ist, wenn ein Flüchtlingsstrom vor einem steht. Man darf den Zuschauer nicht unterschätzen in seinen Erkenntnissen, die er selber über die Gesellschaft hat. Ich habe auch die Erfahrung gemacht: Wenn man keine wirklich zündende Idee hat, wie man Laien künstlerisch binden kann, geht die Arbeit meistens nach hinten los geht. Es funktioniert nur, wenn man sie einbindet in eine Situation, in ein Thema, wie ich es gemacht habe mit den Opfern des NSU-Bombenanschlags. Demnächst arbeite ich mit IS-Aussteigern. Sie haben viel über die Befindlichkeiten beider Seiten – der Flüchtlinge und der hiesigen Bevölkerung – gearbeitet. Fühlen Sie sich von der aktuellen Dimension des Problems überholt? Wenn man die politische Situation der vergangenen vier Jahre genau beobachtet hat, dann hat man diese Krise schon vorausahnen können. Ich glaube, dass Journalisten und Künstler über extreme Antennen verfügen. Sie haben immer wieder darüber geschrieben und berichtet. Dass die Politik sich jetzt überrascht gibt und unfähig ist, damit einigermaßen umzugehen, ist nicht Schuld der Bevölkerung und der Gesellschaft. Man kann nur hoffen, dass die Politik zu einer Handlungsfähigkeit findet. Als Künstler kann ich keine Antworten liefern. Ich kann nur wie ein Seismograph darüber Aufschluss geben, was die Menschen bewegt. Lassen Sie uns über das Wormser Stück sprechen. Geplant ist ein Spiel im Spiel mit einem Filmdreh auf der Bühne. Da bietet sich doch Multimedia an wie bei Ihren Inszenierungen von Wedekinds „Lulu“ und Brechts „Baal“ mit Video und Soundeffekten. Ich werde auf Video zurückgreifen. In Ostermaiers Text trifft man sich für den Dreh des Königinnenstreits vor dem Dom und will die letzten Sequenzen aufnehmen. Dabei greifen die Konflikte der Nibelungen über in die Lebenswirklichkeit der Akteure. Sie müssen darüber nachdenken: Was ist Kunst? Was versuchen wir auf die Beine zu stellen, was wir im Leben vielleicht nicht hinkriegen? Hat das, was wir tun, angesichts der ganzen Dramatik der Flüchtlingskrise, die um uns herum passiert, eigentlich noch einen Sinn? Müsste man nicht einfach die Kunst über Bord werfen, die Ärmel hochkrempeln, sich einreihen bei den Helfern und Suppe kochen? Das sind ganz existenzielle Fragen unserer Gesellschaft. Und ich weiß auch nicht, was die Lösung sein wird. Für Ihre aktuelle Leipziger Inszenierung von Brechts „Baal“ haben Sie als Projektionsfläche die harte Unwirtlichkeit eines weiß gefliesten Raum gewählt. Das bietet sich für den Wormser Dom nun überhaupt nicht an. Haben Sie schon konkrete Vorstellungen? Der Dom ist so schön und so gewaltig, dass man einen Weg finden muss, ihn nicht zuzubauen. Ich bin bei der diesjährigen Inszenierung in der zweiten Hälfte sehr weit nach oben gegangen auf der Zuschauertribüne. Mir ist es ein Bedürfnis, dass der Mensch in der hintersten Reihe auch nah am Geschehen an den Schauspielern sein darf etwa mit Close-ups. Die Leinwand soll dafür groß genug sein. Aber sie wird die Sicht auf den Dom nicht zustellen. Wissen Sie auch schon, wie Sie mit der großen Freilichtbühne umgehen? Dieses Jahr war ja ein Kernpunkt der Kritik, dass Kammerspiel und Spektakel nicht zusammenpassen wollten. Ich möchte nicht über die Inszenierung urteilen. Aber ich glaube, dass sich manche Sachen im Kopf ganz gut anlassen, sich dann aber in der Realität nicht so einstellen. Das kann passieren, das passiert ständig. Man muss mit dem Raum umgehen – man kann da nicht irgendeine Idee hinpflanzen, die mit dem Ort nichts zu tun hat. Meine Bühnenbildnerin will versuchen, genau diese Bindung hinzukriegen mit einem direkten Zugang der Zuschauer. Noch etwas Persönliches. Haben Ihre Eltern schon Ihre Stücke gesehen? Sie sind ja in den 1970er-Jahren als Kind armenisch-jüdischer Flüchtlinge aus Istanbul nach Deutschland gekommen, die nie lesen und schreiben gelernt haben. Meine Eltern nicht. Wir sind kurz vor dem Militärputsch 1980 geflohen. Meine Eltern gehörten zur armenischen Minderheit in der Türkei. Wir lebten hier im politischen Asyl und haben neun Jahre später die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Mein Vater ist relativ früh gestorben. Meine Mutter hat meinen Werdegang aber intensiv verfolgt. Sie will auch nach Worms kommen. Aber für sie ist das natürlich ein komplett anderer Planet, auf dem ich mich bewege. Sie ist auch schon mal bei Proben eingeschlafen. Es sei ihr gegönnt... (Lacht) Man darf’s ihr nicht übelnehmen. Sie findet es gut, sieht, dass ich glücklich bin mit dem, was ich mache. Sie hätte sich wahrscheinlich einen Anwalt oder einen Arzt gewünscht, aber sie akzeptiert das. Jetzt kann sie damit auch ganz gut leben. Wie sehr prägt Ihre Jugend noch Ihre Arbeit? Versuchen Sie, auch für Menschen wie Ihre Eltern, die nicht über eine Hochschulbildung verfügen, Theater greifbarer zu machen? Was ich mitgenommen habe ist, dass ich einen ziemlich direkten Zugang zu den Dingen suche. Ich versuche, die Dinge sehr situativ aufzunehmen und nicht mit eigenen Vorkenntnissen etwas zu überlagern. Ich habe mir eine extreme Neugier bewahrt und kann auf die Dinge blitzschnell reagieren, auch wenn es unkalkulierbar wird. Deshalb auch meine große Sehnsucht, immer wieder mit Laien und unberechenbaren Elementen im Theater zu arbeiten, weil mir das ein Gefühl von Freiheit vermittelt, wie ich es auf der Straße erlebt habe.

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