Kaiserslautern Ich geb’ Gas

Shit, war das knapp. Verdammt knapp. Um ein Haar... Verflucht. Er hatte den Holztransporter nicht kommen sehen, hatte nicht mal gemerkt, dass er sich zu weit aus der Kurve hatte tragen lassen. Dass er schon drüben war auf der anderen Seite. Fast hätte er ihn erwischt. Frontal. Bumm. Aus. Ende. Teufel, Teufel. Seine Hände am Lenkrad zitterten, kleine Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Beruhige dich, Mann. Er angelte mit einer Hand nach der Flasche, bekam sie zu fassen, setzte sie an und kippte einen Schluck. Es brannte in der Kehle, doch die Beklemmung wich. Das wäre was gewesen: ’ne neue Stelle als Kühlergrillschmuck eines 40-Tonners. Er gluckste. Obwohl – gemessen an dem, was er derzeit machte, wäre das ja fast schon ein Aufstieg. Zumindest, wenn es wie jetzt die Berge im Pfälzerwald hochging. Die Anspannung löste sich in einem nervösen Kichern, entfleuchte durchs offene Fenster in die hereinbrechende Nacht. Zisch ab. Aus dem Lautsprechern knarzte „Born To Be Wild“: „Get your motor runnin’, head out on the highway.“ Yeah. Einen Schluck noch. Sein Puls normalisierte sich, je weiter sich die Flasche leerte. Er pegelte sich wieder ein. Was war nur los mit ihm? Klar, wieder zu schnell unterwegs, wieder zu viel getankt. Aber so war er doch noch nie gefahren, so wie in Trance, ganz in Gedanken. Wo war er? Langsam sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein. Weg hatte er gewollt, einfach nur weg. Möglichst weit fort. Viele Kilometer hinter ihm und bald noch viele Kilometer mehr, da würden sie sich treffen, es konnte nicht mehr lange dauern, sie würden sich um den Hals fallen, die Gläser würden klirren. Das phänomenale Stelldichein. Die Verbrüderung, großes Bohei ums Wiedersehen nach 20 Jahren Abi. Ach Gottchen. Und du, was machst du so? Mein Auto, meine Villa, mein Golf-Handicap, mein Schlaganfall? Pah. Zum Kotzen. Er würde das nicht mitmachen, niemals. Die Wochen, die Tage zuvor hatte er drüber nachgedacht, im Kopf hin und her gewälzt, sollte er gehen oder nicht? Sich ausgemalt, was er denn tun würde, was sie tun würden, wenn er dort aufkreuzte. Er hatte neulich diesen Spruch gelesen: „Lächle, du kannst sie nicht alle töten.“ Erst hatte er gelächelt. Bis ihm aufgegangen war: Es stimmte. Er konnte sie nicht alle umbringen. Aber sie verachten, das konnte er. Und nicht hingehen. Er steckte sich eine Fluppe an. „I walk this empty street on the boulevard of broken dreams. Where the city sleeps, and I’m the only one and I walk alone.“ Oh, Green Day. Na, das passte ja prächtig zu seiner gepflegt miesen Laune. Ein Schlückchen zur Aufmunterung. Vor ihm schlängelte sich die Straße dahin, doch er sah nur die dicke Eva mit ihrem ewigen Schmollmund, den Dirk, den sie warum auch immer „Hempel“ gerufen hatten, und den Stefan, der für alle aus unerfindlichen Gründen immerzu nur der „Staubsauger“ war. Den Kalle, der eigentlich Ralf hieß, und die obercoole Kristina – „aber mit K bitte, eididei“, äffte er –, die Anführerin der angesagten It-Girls, die immer nur Spott für ihn übrig gehabt hatten. Er schnaufte. Es war ja nicht so gewesen, dass er sich nicht bemüht hätte, dazuzugehören in all den Jahren. Es hatte nur nie geklappt. Sie hatten ihn nicht reingelassen. Die megalässigen Dribbelkünstler, die sich von der Punktprämie am Wochenende geile Bikerstiefel kaufen konnten, während er auf billigem Wild-Imitat herumstakste. Schönlinge wie Timo, der eine Schnalle nur anlächeln musste, und sie schmolz dahin. Nicht mal die Nerds, die an ihren Amigas und Commodores herumgeschraubt hatten und nun alle irgendwo IT-ler waren. Was er auch versucht hatte, ob er sich zum Clown machte, ob er sich unterwürfig gab oder aufmüpfig, sie hatten ihn doch nur ausgelacht. Oder einfach ignoriert, was fast noch schlimmer war. Dreckspenne. Drecksmitschüler. Und die Lehrer... Er nahm einen Schluck. „Highway Star“, Deep Purple. „Nobody gonna take my head, I got speed inside my brain. Nobody gonna steal my head, now that I′m on the road again.“ Er beschleunigte. Er war so froh gewesen, das alles hinter sich zu lassen. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben. Die Demütigungen. Hey, Loser, in Sport bist du kacke, in Mathe ’ne Null, in Deutsch ’ne Pflaume, was kannst du überhaupt? Die Enttäuschungen. Selbst der feiste René war anerkannter. Und was hatte ihm das Abi gebracht? Kein Glück jedenfalls. Durchs Studium gerumpelt. Hinterher es mit anderen Dingen versucht, mehr schlecht als recht. Nichts hatte gepasst. Aber sie würden protzen heute Abend. Dabei hatte der Doofkopp Marc nur das Glück gehabt, dass er in der Firma seines Vaters einsteigen konnte. Und die Steffi mit der Bling-Bling-Visage hatte Pharmazie studiert, sich ’nen reichen Apotheker geangelt und ab auf die Finca auf Malle. Sie würden wieder nur lachen. „Mein Maserati fährt 210, schwupps, die Polizei hat’s nicht geseh’n. Ich geb’ Gas, ich will Spaß.“ Der gute alte Markus. Hatte er mit draufgepackt. Seine Marotte, Musik immer nur thematisch zusammenzustellen. Wann hatte er bloß damit angefangen? In der Oberstufe? Darin war er unschlagbar gewesen. Er hatte so viele Tonträger zu Hause gestapelt, da kam keiner mit, nicht die Beaus und nicht die Tussen. Da waren sie auf einmal zu ihm gekommen. Zu ihm! He, kannst du mir nicht mal, biiiitte? Wäre toll, wenn du mir ... Und er hatte. Dann hatten sie ihn gefragt, ob er bei den Partys die Mucke auflegen würde. Er hatte, und wie. Sie machten ihn zu ihrem DJ, er berauschte sie. Von ab da wurde irgendwie alles anders. Er lächelte, ganz unverstellt, zum ersten Mal. War das wirklich schon 20 Jahre her? Da war doch auch sie gewesen? Wie hieß sie noch? Susanne? Nein. Beate? Nein. Tamara! Ja, Tamara. Unmerklich nahm er den Fuß vom Gas. Er hatte sie nie wirklich beachtet, bis, ja bis sie ihn angelacht hatte beim Abi-Ball. Sie hatten geredet. Er nippte nur noch an der Flasche. Sie hatten getanzt. Er schaute auf die Uhr. Sie hatten... „heaven’s in the back seat of my Cadillac – let me take you there, yeah yeah“. Hot Chocolate. Du Depp. Warum hast du dieses Glück damals nicht festgehalten? Etwas lange Verschüttetes bahnte sich seinen Weg nach oben. So übel war sie gar nicht gewesen, diese Zeit. Er hatte nur seine Chancen nicht genutzt, das wurde ihm schlagartig klar. So viele schöne Szenen ploppten plötzlich auf. Wo hatte er nur immer hingestarrt? Und wer sagt, dass die anderen immer nur Glück hatten? Vielleicht sind sie dir heute viel ähnlicher als vor 20 Jahren. Sein Missmut verflog. Er wurde neugierig. Was wohl Ingo machte, sein bester Kumpel einst? Er hatte ihn komplett aus den Augen verloren. Oder der Thilo? Mensch, weißt du noch... Ja, er wusste es noch. Er fuhr auf den Seitenstreifen. Er wendete. Er hatte sich entschieden. Vielleicht war sie ja auch da. Vielleicht würde sie sich an ihn erinnern, bestimmt sogar, vielleicht würden sie sich gut verstehen, vielleicht war auch sie frei, um neu zu beginnen. Noch mal von vorn anfangen. Alles auf Los. Eine neue Chance, vielleicht, vielleicht. Er fühlte sich wie beflügelt. Er war spät dran, aber es würde reichen. Er konnte es kaum erwarten, in sein neues Leben zu starten. Jetzt. Sofort. Heute Nacht. Schneller. Er merkte gar nicht, wie die Straße dahinflog, als er Kurve um Kurve nahm, tief unter ihm im Tal plätscherte ein Bach. Jedes Lied sang er laut mit, wie im Rausch. Nur noch eine Kehre. Als sein Auto die Leitplanke durchbrach, lief gerade „Highway To Hell“. Zum Autor Martin Schmitt, 41, ist Redakteur bei der RHEINPFALZ am SONNTAG und betreut dort die Rubrik „Menschen“. Die 20-Jahre-Abi-Feier hat er schon hinter sich.

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