Kaiserslautern Hummel auf Asphalt

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Clemens Setz ist der Liebling der Feuilletons. Seit seinem Romandebüt vor zehn Jahren gehört der Österreicher zu den vielbeachteten jungen Romanautoren, landete bereits auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse. Als angenehm wird die Lektüre seiner Prosa selten beschrieben, als lohnend schon. Jetzt hat der 34-Jährige sein erstes Theaterstück geschrieben, eine Auftragsarbeit fürs Mannheimer Nationaltheater.

Sieht alles recht harmlos aus: Ein strenger Vater will seine Tochter dazu bringen, ihren Teller aufzuessen. Während die Neunjährige stumm auf Fleisch und Püree starrt, versucht es der Vater mit Drohgebärden („Ich habe Zeit“), Verlockungen („Ist jetzt nichts im Fernsehen, was du sehen möchtest?“) und Moralgesäusel („Du hast keine Ahnung, wie gut es dir bei uns geht“). Ein Meisterstück familiärer Pädagogik ist das nicht, aber welcher Abgrund sich hier auftut, wird erst später klar. Das Elternpaar hat die Szene mit übel schmeckendem Essen provoziert und mit versteckter Kamera aufgezeichnet. Über einen Bekannten werden die Filmchen dann im Internet vertickt. Die Kundschaft ist männlich und darf Wünsche äußern bezüglich der Szenengestaltung. Die Romane von Clemens Setz sind bevölkert von Menschen, die sich in seelischen Grenzbereichen bewegen, Borderliner, Autisten, psychisch Angeschlagene, Opfer und Täter in sonderbarer Verstrickung. Auch in seinem ersten Text fürs Theater lässt uns der Österreicher in einen Abgrund blicken, diesmal ist es ein familiärer. Es ist die softe Version eines Missbrauchs, es gibt keine physische Gewalt, keine sexuellen Übergriffe. Aber auch hier wird ein Kind von denjenigen betrogen, denen es am meisten vertraut, wird emotional ausgebeutet, abgerichtet für pädophile Fantasien. Der Schritt vom seelischen zum körperlichen Missbrauch scheint jederzeit möglich. Mit „Vereinte Nationen“ möchte Setz vor allem die Gedankenwelt der Täter ausleuchten, des Elternpaares und ihres digitalen Helfers. Wie alles anfing, bleibt im Dunkeln. Was die Szenen des Stücks erzählen, ist das Gemenge aus schlechtem Gewissen, kruder Selbstrechtfertigung und zunehmendem Wohlstand, in dem sich das Paar immer mehr verliert. Zu Beginn können sich Anton und Karin noch einreden, sie dokumentierten ganz normale Erziehungsmaßnahmen mit ihrer Tochter. Als der Umsatz steigt und man von „Natural-Szenen“ auf inszenierte Szenen nach Kundenwunsch umsteigt, reden sie sich ein, irgendwie künstlerisch tätig zu sein. Oskar, ihr Internet-Dealer, liefert dazu den passenden „Businessplan“, beobachtet den Markt und zeigt neue Optionen auf. Da sind die drei, zu denen auch noch Oskars schrille Freundin Jessica gehört, längst in einer Parallelwelt angekommen, die von den Porno-Perversitäten des Internets bis ins Kellerverlies des Tochtervergewaltigers Josef Fritzl reicht. Der präzise Blick in die Seelenwelt der Figuren ist die Qualität dieses Stücks, sein Mangel ist die doch recht ratlose Statik. Nach dem Eröffnungscoup, dass Kindererziehung zum Spartenangebot sonderbarer Internetgelüste taugt, verändert sich nicht mehr sehr viel. Der Autor belässt es dabei, seine Figuren kühl zu beobachten, wie es Anton mit der hilflosen Hummel macht, die er auf der Straße entdeckt und in gefühlloser Faszination ihrem Schicksal überlässt. Bevor das Stück auch beim Festival Frankfurter Positionen zu sehen ist, erlebte es im Studio Werkhaus des Nationaltheaters seine Uraufführung. Mit einem drehbaren, von allen Seiten einsehbaren Wohnkubus hat Ausstatterin Thea Hoffmann-Axthelm ein treffendes Bild für die alle Intimität bedrohende Welt der sozialen Netzwerke gefunden. In diesem vor keiner voyeuristischen Zudringlichkeit geschützten Wohngefängnis sperrt Regisseur Tim Egloff seine Figuren ein, versucht gleichzeitig, wechselnde Perspektiven zu schaffen und dem Geschehen dramatische Dynamik zu geben. Dies gelingt vor allem, wenn er die von oben aufgenommenen Kinderszenen als Video einspielt und damit offenbart, welchem voyeuristischen Herrschaftsblick das Kind da ausgesetzt ist. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, können die Hermetik ihrer Figuren aber auch nicht aufbrechen. David Müllers Anton bleibt von Anfang bis Ende der von schlechtem Gewissen geplagte Vater, der die Gemeinheiten gegenüber der Tochter mit kleinen Gunstbezeugungen zu kompensieren sucht. Die Karin der Anne-Marie Lux ist da wesentlich tougher drauf, entwickelt im Umgang mit dem Kind fast schon sadistische Neigungen und pflegt ansonsten einen ziemlich empathiefreien Professionalismus. David Laus Oskar ist der coole Nerd, ein jovialer Mephisto des weltweiten Netzes, der keine Sekunde darüber nachdenkt, was man der „kleinen Superstarmaus“ eigentlich antut. Termine —Nächste Vorstellungen 19. und 21. Januar, 12. Februar —Karten: Telefon 0621/1680150

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