Kaiserslautern Gelb steht für billig

Ein Kuss droht alt zu werden, zwei Körper könnten, ganz vage, „einander interessieren“: Thomas Melle findet überraschende Vokabeln für das, was man vorsichtig einen Liebesroman nennen könnte. In seinem Werk „3000 Euro“, das unter den Finalisten im Rennen um den Deutschen Buchpreis ist, der am Montag vergeben wird, schildert er die versuchte Annäherung zweier sozial und psychisch Versehrter und wie sie sich schließlich verfehlen – oder doch nicht?

Dreh- und Angelpunkt sind die prosaisch titelgebenden 3000 Euro – der gescheiterte Jurastudent Anton schuldet eben diese Summe der Deutschen Bank, die einen Rechtsstreit gegen ihn angezettelt hat. Zwei arrivierte ehemalige Kommilitonen wollen ihn, der längst unter ihr Niveau gerutscht ist, vertreten, was nicht ohne Konflikte verläuft. 3000 Euro wiederum erwartet die Supermarkt-Kassiererin und alleinerziehende Mutter Denise als Honorar für ihre Mitwirkung an einem Internetporno, die sie längst bereut. An der Kasse hat sie Angst, von „notgeilen“ männlichen Kunden wiedererkannt zu werden. Sie selbst dagegen soll laut Anweisung die Kundschaft tunlichst nicht mustern, mögen ihr noch so viele Krähenfüße und Elefantenhaut-Dekolletés ins Auge springen oder auf dem Band eine „Dicke-Hose-Pizza mit Krabben“ auf sie zufahren. Anton findet Denise „auf prollige Weise sehr hübsch“, sie sieht in ihm eine „arme, hübsche Sau“. Auf reizvolle Weise spiegeln sich ihre Blicke und Einschätzungen ineinander. „Ich wollte keine Romeo-und-Julia-Geschichte oder Liebes-Schmonzette schreiben“, sagt der Autor, „sondern eine Annäherung, die in Momenten in eine Art von Liebe umkippt oder wo es Momente gibt, wo sie es schaffen, einander nahe zu sein, und dann auch wieder eine Entfremdung oder eine Wahrnehmung voneinander, die halt nicht so ganz klappt.“ Der 1975 in Bonn geborene Thomas Melle, der schon lange in Berlin lebt und bereits den Erzählungsband „Raumforderung“ und den Berlin-Roman „Sickster“ veröffentlicht hat, ist ein eminent visueller Erzähler, beginnend mit den Signalfarben Gelb für billige und Rot für höherwertige Supermärkte. Sein ausgeprägter Sinn für Farben und Formen, für Oberflächenstrukturen und die spezifischen „Benutzeroberflächen“ der Protagonisten prägte bereits den Band „Raumforderung“. Dieser begeisterte durch schiere, emphatische Lust an der Sprache, durch die vielen Brüche und nicht immer appetitlichen Überraschungen. Ein Satz wie „Ediths Wohnung hat Krebs“ ließ Medizin und Innenarchitektur eine gewagte Verbindung eingehen. Krebs wurde hier als Metapher für grassierenden Geschmacksverfall gebraucht. Als Anton nun seine depressive Mutter besucht, heißt es: „Die Wohnung, die einst Krebs hatte, ist jetzt in Agonie erstarrt. Staub hat sich auf die Massen an Kränzen, Plastikblumen und Kerzen gelegt, ein paar verglaste Bilder haben Sprünge.“ Der staubbedeckte Stillstand der Einrichtung symbolisiert die fehlgeschlagene Therapie – doch unsere Gesellschaft tabuisiert nach wie vor jene, die bei der „Neuronenlotterie“ Pech hatten. Anton ist als Selbstmordkandidat gezeichnet, mit sentimentalen Anklängen an Fassbinder-Melodramen wie „Faustrecht der Freiheit“ oder „Ein Jahr mit 13 Monden“. Jedenfalls ist die Szenerie in Melles namenloser deutscher Großstadt ähnlich deterministisch düster: Entweder wandert Anton ziellos umher oder er schläft möglichst ausgedehnt, den Schwebezustand vor dem Aufwachen auskostend; die Psychologen sprechen in so einem Fall von „passiver Konfliktvermeidung“. Denise hingegen sieht leidenschaftlich fern und freut sich dabei über jene, die in Scripted-Reality-Sendungen gedemütigt werden. Auch sie wird mit ihrer Tochter, der eine „Wahrnehmungsstörung“ attestiert wurde, von der angeblich am Kindeswohl interessierten Gesellschaft alleingelassen. So gerät die Einsamkeit der beiden Außenseiterfiguren zum verbindenden Moment in einem gleißend bunten Jetzt, das in seiner Hybris vom Verfall bedroht ist. Mit seinen treffenden Gegenwartsbeobachtungen, etwa wenn er den grassierenden Ausdruck „sehr gerne“ als freundliches Nichts oder „Zeitungsgedanken“ geißelt, erweist sich der Verfasser als lakonischer Desillusionist in der Nachfolge eines Rolf Dieter Brinkmann. Der Roman „3000 Euro“, Melles Versuch einer „neuen Sachlichkeit“ nach dem rauschhaften Vorgänger „Sickster“, lebt von seiner vibrierenden Binnenspannung. Diese lässt immer wieder Hoffnung aufkommen und könnte in eine Art Happy End münden. Denn Denise könnte Anton das Geld geben, aber wird sie es nach ihrer gemeinsamen Nacht auch wirklich tun? Zum Glück ist Thomas Melle alles andere als ein Autor für einfache Lösungen.

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