Kaiserslautern Der Stoff, aus dem Helden gemacht sind

Auf Frauen und Kinder schießt man nicht. So lautet ein Tabu. Gangster missachten es, aber Soldaten, die Leben schützen sollen? Die ersten 20 Minuten von Clint Eastwoods umstrittenem Kriegsfilm „American Sniper“ brechen dieses Tabu auf die schlimmste Art und fragen, ob Scharfschützen Helden oder Feiglinge sind.

Der US-Scharfschütze Chris Kyle liegt mit seinen Kameraden auf dem Dach eines Hauses im Irak. Er ist konzentriert, den Finger immer am Abzug. Aus dem Haus gegenüber treten eine Frau, deren Gewand sich seltsam bauscht, und ein Kind. Der Scharfschütze ahnt, dass sich ein Sprengsatz darunter versteckt und gibt das über Funk weiter. „Schießen Sie, wenn Sie glauben, dass es sonst einen Anschlag gibt“, sagt die Stimme seines Chefs in sein Ohr. Der Scharfschütze sieht, wie die Frau den Sprengsatz dem Kind in die Hand gibt, zögert kurz, zielt und drückt ab. Der Sprengsatz explodiert auf der Straße, US-Soldaten werden nicht verletzt. Die Kameraden loben ihn: „Guter Schuss“. Hollywood-Veteran Clint Eastwood (84), der noch nie einen Film gedreht hat, in dem keine Waffen vorkommen, zeigt zwei Stunden lang den Krieg im Irak aus der Perspektive des Scharfschützen Chris Kyle (1974-2013). Mindestens 160 Menschen hat Kyle aus dem Hinterhalt kaltblütig getötet, er ist der erfolgreichste Scharfschütze in der US-Geschichte. Seine 2012 erschienene Autobiografie war ein Bestseller, regte die Menschen in den USA aber längst nicht so auf wie nun die Kinobiografie, die wider Erwarten zu Eastwoods finanziell erfolgreichstem Film und zum erfolgreichsten US-Kriegsfilm überhaupt geworden ist – gerade, weil sie das Land spaltet. In diejenigen, die Scharfschützen gut finden, und solche, die sie als Feiglinge ablehnen. Es ist lange her, dass ein Kinofilm eine solche moralische Sprengkraft entfaltete, dabei ist es nicht mal Eastwoods bester Film. Der simple Trick dieser verfilmten Autobiografie ist, dass Eastwood dauernd pendelt: zwischen den Szenen des Scharfschützen (brillant gespielt von Bradley Cooper) im Krieg und seinem Leben jenseits des Irak. Vor dem Schuss auf Frau und Kind flackern Szenen aus Kyles Kindheit auf: Er war schon immer ein guter Schütze. Aber auch Szenen mit seiner schwangeren Ehefrau werden dazwischen geschnitten. Leben gegen Leben, die Bibel kommt ins Spiel, Kyles Frau Tara (Sienna Miller) ist im Kreißsaal zu sehen, später ist das Kind da, mit dem Kyle wenig anfangen kann, ebenso wie mit seinem Leben als einfacher Familienvater. Immer denkt er an den Krieg, was seine Frau ihm vorwirft. „Selbst, wenn du bei mir bist, bist du nicht da“, sagt sie enttäuscht. Gerade die kurzen Familienszenen sorgen dafür, dass der Film von der einen Hälfte der Zuschauer als plumpe Heldenverehrung gegeißelt wird. Als Scharfschütze hat Kyle das Leben vieler Soldaten gerettet, selbstlos, es machte ihn zu einem Menschen, der mit dem Leben ohne Krieg nicht zurechtkommt. Es machte ihn zu einer kaltblütigen Tötungsmaschine, dazu noch aus der ungefährdeten Position des Scharfschützen, der immer ein Feigling sei, sagt die andere Hälfte der Zuschauer, angeführt vom US-Regisseur Michael Moore, dessen Vater von einem Scharfschützen getötet wurde. Der Film polarisiert. Nicht Partei zu ergreifen, ist nicht möglich, ihn sich nicht anzusehen, aber auch nicht, denn sonst kann man nicht mitreden in dieser großen und wichtigen Diskussion, die auf Europa überschwappen wird, wo Fragen der Moral mindestens so wichtig sind wie in den USA. Der Film zeigt, wie böse die Iraker sind: Sie knallen nicht Soldaten ab, sondern foltern Kinder, indem sie ihr Gesicht mit einem Bohrer malträtieren. Da unterscheidet sich „American Sniper“ nicht von einem bluttriefenden B-Picture, von simpler US-Kriegspropaganda. Aber die Szenen sind kurz, Eastwood weidet sich nicht wirklich daran. Die übliche pathetische Musik fehlt, und auch die Kameraderie. Scharfschützen sind Einzelgänger, manchmal so selbstgerecht wie US-Marschalls im Western, manchmal einfach nur Befehlsempfänger, wie der Dialog Kyles mit seinem Vorgesetzten vom Anfang zeigt, der mit dazu beitrug, dass der Film den Oscar für den besten Tonschnitt bekam – zusammen mit den durch Nachaufnahmen extrem realistischen und manchmal schmerzhaft lauten Schießgeräuschen. Doch so begrüßenswert es ist, dass das Kino wieder zum Ort des Anstoßes für große politische Debatten wird: Soldaten wie Kyle, Scharfschützen im Nahkampf, waren gestern, Scharfschützen, die gar nicht mehr vor Ort sind, sondern Drohnen dirigieren, die dann für sie schießen, sogar auf Frauen und Kinder ohne Waffen – denn so genau kann man das mit den Drohnenaugen nicht immer sehen – sind schon die (US-)Gegenwart. Auch darüber gibt es schon einen US-Spielfilm. „Good Kill“ (2014) von Andrew Niccols mit Ethan Hawke. Er ist noch besser, aufwühlender und schockierender. Aber dieser Irak-Kriegsfilm wurde im Gegensatz zu „American Sniper“ ohne Unterstützung des US-Militärs gedreht, er läuft bei wenigen mutigen Festivals und findet nirgendwo einen Verleih, denn da ist vom Heldentum nun gar nichts mehr übrig.

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