Kaiserslautern Den Lautrern vertraut wie die Lauter

Das Lauterer Theaterpublikum ist ebenso genüg- wie schweigsam. Nur selten kommt es zu enthusiastischen Beifallsstürmen, echte Buhruf-Chöre sind kaum zu verzeichnen. Aber auch ohne ihre Emotionen an die große Glocke zu hängen, waren sich die Zuschauer über die Joseph-Roth-Dramatisierung „Hiob“ einig: In der Titelrolle bot Reinhard Karow die intensivste, nachdrücklichste, unvergesslichste Darstellung der Saison 2013/14.

Und das will angesichts der Antiken-Nacht und Henning Kohnes „Galilei“ schon was heißen! Karow und Kohne gehören mit Rainer Furch, Peter Nassauer, Hannelore Bähr und der sträflich selten mit guten Rollen bedachten Susanne Ruppik zu den altgedienten Pfalztheater-Kämpen, die im Lauf der Jahre den Theatergängern so vertraut geworden sind wie Lauter, Fruchthalle, Holperstraßen und wenig theaterbegeisterte Stadtpolitiker. Reinhard Karow – immerhin seit 1993 am Pfalztheater tätig – hat in dieser Zeit wunderbare Zeugnisse einer Rollenauffassung vorgelegt, die auf Wandelbarkeit beruht, ohne dass der Schauspieler gänzlich hinter seiner Figur verschwindet. Ob er nun den zwielichtigen Landgerichtsdirektor in Horváths „Kasimir und Karoline“ spielt oder den fußballnärrischen Taxifahrer in „Der Betze brennt“, ob er als Herzog von Alba im „Egmont“ grausam Recht spricht oder den rettenden Onkel im Boulevardstück „Cash“ gibt − Karow bleibt Karow und ist gerade deshalb in jeder Rolle glaubhaft. Er wirkt selbst in der Maske des Knopfgießers in Johannes Reitmeiers fulminanter „Peer-Gynt“-Inszenierung von 2002 natürlich und selbstverständlich, so irdisch und scheinbar mühelos hingetupft skizziert er seine Figuren. Alles Übertriebene, Aufgeblasene, Laute und Plakative ist ihm fremd. Sobald er die Bühne betritt, weht der Anhauch echter Menschlichkeit in den Zuschauerraum – sogar wenn Karow slapstickhafte Kurzauftritte in „Arsen und Spitzenhäubchen“ (als Polizist) hinlegt oder grell-karikierend als Papst im Pseudo-Provokatiönchen „Liebeskonzil“ verheizt wird. Gerade in dieser ärgerlich sinnfreien Bombast-Inszenierung zeigte sich 2008, dass Karow eher Kopf- denn Bauchschauspieler ist. Ohne das Emotionale auszublenden, legt er seine Figuren vom Intellekt her an. Überlegt, nachdenklich, behutsam wirkt der Schauspieler auch im Gespräch. 1948 in Lesse bei Braunschweig geboren, wuchs der Sohn eines Kaufmanns und einer Lehrerin in Hannover auf. Am dortigen Staatstheater sah er Leute wie Monica Bleibtreu, Wolfgang Reichmann und Hermann Treusch. Ihr Spiel zog ihn dermaßen in Bann, dass der 20-Jährige in München Schauspielunterricht nahm. Sein Bühnendebüt gab er 1974 in Augsburg im Musical „Kiss me, Kate“. Die nächsten Stationen waren Kassel, Göttingen, Kiel und Castrop-Rauxel, ehe ihn Jürgen Bosse 1980 ans Mannheimer Nationaltheater holte. Daneben absolvierte er Abstecher ins Fernsehen („Liebe, Tod und Eisenbahn“, 1990), war Schauspiellehrer in München, spielte in Osnabrück und Rostock – und übernahm erste Regieaufgaben. „Zur Regie bin ich gekommen, weil ein Regisseur Verantwortung übernehmen muss für das Stück, für den Autor, für die Darsteller“, sagt er. Sein Inszenierungsstil setzt aufs Kollektiv, das indes der Regisseur erst durch gewissenhafte Vorbereitung beflügelt und inspiriert. Oder in Karows Worten: „Jeder der Schauspieler muss seine Sichtweise formulieren können, ehe sie der Regisseur mit der Perspektive der anderen zusammenführt. Es geht ums gemeinsam Erarbeiten. Das ist die ganze Mathematik.“ Dieses Er- und Aus-Arbeiten hat der Regisseur Karow auch am Pfalztheater kultiviert. Seit ihn Pavel Fieber 1993 an die Lauter holte, widmet sich der weiterhin in Mannheim lebende Künstler vor allem gesellschaftspolitischen und sozialkritischen Stücken. Das provokative Volksstück „Alpenglühen“ von Peter Turrini steht in dieser Reihe irritierender Bestandsaufnahmen der aktuellen Lebenswirklichkeit, ebenso das schmerzensreiche Familientreffen in Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Eine großartige Teamleistung war Karows Interpretation des Beckett-Klassikers „Warten auf Godot“ mit Peter Nassauer und Frank Lentz. Vor allem oszilliert er immer wieder zwischen Sinnsuche und Lebenshunger, angekränkelter Perversion und verzweifelter Unbehaustheit. Er lotet das peinigend weite Feld zwischen Einsamkeit und Verzweiflung, Wut und Angst, Rausch und Hoffnungslosigkeit aus. So brachte Karow dem Lauterer Publikums bestürzend wahrhaftige Gegenwarts-Tableaus näher − von Franziska Walsers „Bisschen Ruhe vor dem Sturm“ über Mark Ravenhills „Shoppen und Ficken“ sowie Jordi Galcerans „Grönholm-Methode“ bis hin zum nervenzehrend authentischen „Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza und dem derzeit laufenden „Vornamen“ von Matthieu Delaporte. Den Schauspieler Reinhard Karow, der im September in den Ruhestand gehen wird, erlebten die Lauterer zuletzt als Großinquisitor in Harald Demmers intellektualistischem „Don Carlos“. In bewährter Gestaltungssicherheit reihte er den blutdurstigen Theoretiker ein in seine Phalanx dankbarer Klassikerrollen, von denen vor allem sein Montague in „Romeo und Julia“, der Doge im „Kaufmann von Venedig“, der Schigolch in „Lulu“ und der Polizeichef Tiger Brown in der „Dreigroschenoper“ in Erinnerung geblieben sind. Keinesfalls zu vergessen natürlich der alte Moor in den „Räubern“ und der todkranke Patriarch Big Daddy in der „Die Katze auf dem heißen Blechdach“. Auch dies sind Männer, deren Kraft und Einfluss schwinden, die mit Tod und Einsamkeit konfrontiert sind, denen nichts bleibt als ihr Wille und Geist. Intellekt und Ratio als letzte Zufluchtsstätten unseres Daseins – das ist nicht die schlechteste Perspektive für die nach Wärme dürstenden Individuen einer in Gefühlsstarre erkalteten Gesellschaft.

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